Im Fadenkreuz der Angst
Mit seinem bescheuerten Rat will er mich nur von Schlägereienabhalten, damit ich keinen Ärger kriege und sein kostbarer Ruf nicht zu Schaden kommt. Nach dem Motto: »Was du auch tust, es wird auf unsere Familie abfärben.« Auf ihn.
Eddy piekt mich zum dritten Mal.
Ich drehe mich um. »Hör auf«, flüstere ich.
»Und wenn nicht?« Eddy grinst. Selbst seine Zähne haben Muskeln.
Mr Bernstein klatscht in die Hände. »Harrison? Sabiri?«
»’tschuldigung«, sage ich. »Hab mich bloß gestreckt.«
Mr Bernstein wirft uns einen scharfen Blick zu, dann legt er den Kopf in den Nacken und fährt fort mit den Hexenprozessen. »Um ein Geständnis zu erzwingen, durften die Beschuldigten gefoltert werden. Beweise durften geheim bleiben. Oder auf Hörensagen basieren. Denn wozu«, sagt Mr Bernstein, »braucht man ein faires Verfahren, wenn die Angeklagten sowieso schuldig sind?«
Dave Kincaid, in der Außenreihe, reißt den Arm hoch. »Aber gab es denn kein Recht auf ein faires Verfahren?«
»Nein, die Beschuldigten hatten überhaupt keine Rechte«, sagt Mr Bernstein. »Das ist ein wichtiger Aspekt, Kincaid. Danke, dass Sie das angesprochen haben. Heutzutage halten wir es für selbstverständlich, dass wir bestimmte Rechte haben. Das ist es aber nicht. Unsere Vorfahren haben sie erkämpft.«
Mit der Fußspitze schiebt Eddy meinen Stuhl nach vorne.
»Nennen Sie die Rechte, die wir am meisten schätzen«, fordert uns Mr Bernstein auf. Er stellt sich an die Tafel und notiert, was aus der Klasse gerufen wird: »Das Recht auf freie Meinungsäußerung. Gleichheit. Freie Religionsausübung. Privatsphäre. Versammlungsfreiheit. Ein fairer Prozess.«
Eddy beugt sich zu meinem Ohr vor. »Du hast Bernstein erzählt, du wolltest heute mit deinem Daddy in Toronto sein. Was’ los? Ist eurem Kamel das Benzin ausgegangen?«
Ich will ihn überhören. Will die Worte von der Tafel abschreiben.
»Bist du taub, Sabiri? Hä?«
Meine Hand zittert.
»He, du, Kameltreiber.«
Ich wirbele herum: »Fick dich!«
O mein Gott. Bitte mach, dass ich eben nicht ›Fick dich!‹ gebrüllt habe. Aber ich habe es getan. Das merke ich an der Stille. An dem Ausdruck in Mitchells Gesicht. Und an dem klaren, kalten Ton in Mr Bernsteins Stimme: »Was haben Sie da gesagt?«
Todesmutig gucke ich Mr Bernstein an. Aber er hat gar nicht mich im Blick. Sondern Eddy. »Harrison, ich rede mit Ihnen. Was haben Sie zu Sabiri gesagt?«
»Nix.«
»Denken Sie nach.«
Eddy klopft mit seinem Stift auf den Tisch. »Ist doch egal, was ich gesagt habe! Er hat meine Mutter verflucht.«
»Was für eine feige Lüge!« Mr Bernsteins Augen glühen. »Hier in unserer Klasse ist kein Platz für Rassismus,Harrison. Verlassen Sie den Unterricht und melden Sie sich beim Konrektor.«
Eddy steht langsam auf, nimmt seine Bücher und seinen Rucksack und latscht durch die Klasse. »Von wegen freie Meinungsäußerung!« Er bleibt an der Tür stehen und zieht sein Handy aus der Tasche. Noch bevor er im Sekretariat ist, wird er seinem Vater eine passende Geschichte aufgetischt haben.
Mr Bernstein ist das egal. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, unsere Rechte. Bis zum Ende der Stunde schreiben Sie einen Aufsatz über die Bürgerrechte, die Ihnen am wichtigsten sind, und begründen Sie Ihre Wahl.«
Ich will arbeiten, aber es klappt nicht. Eddy ist sauwütend. Er wird mir auflauern. Was mache ich dann?
Ich muss nicht lange grübeln. Minuten später ist Eddy zurück und lächelt blöde. Er gibt Mr Bernstein einen Zettel mit der Erlaubnis zur Rückkehr in den Unterricht.
Mr Bernstein wirft den Zettel in den Papierkorb. »Ihre Aufgabe steht an der Tafel.« Er beobachtet Eddy wie ein Luchs.
Eddy tut so, als wäre ihm das alles total egal. Er schlendert zu seinem Platz, winkt seinen Kumpels zu, stößt »versehentlich« an meinen Tisch und setzt sich dann hin. Mr Bernstein räuspert sich.
»Entschuldigung«, sagt Eddy, total sarkastisch.
Noch acht Minuten. Wie kann ich entkommen?
Aus dem Lautsprecher tönt die Stimme der Schulsekretärin. »Mr Bernstein?«
»Ja?«
»Würden Sie bitte Sabiri zu mir schicken? Mr McGregor möchte ihn sprechen.«
Mr Bernstein runzelt die Stirn. »Selbstverständ lich .«
Eddy beugt sich zu mir vor. »Vielen Dank für die Scheiße. Ich werde hier sein, wenn du deine Bücher holst. Wir sprechen uns hinter der Sporthalle, du und ich und meine Jungs.«
Mr Bernsteins Augen flackern, als hätte er das gehört. »Sie können Ihre Sachen
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