Im Gewand der Nacht
haben mag. Übrigens, warum haben wir hier eigentlich keine Beamtin? Wir bräuchten unbedingt eine Frau vor Ort.«
»Farsakoğlu sollte Gün um acht Uhr ablösen. Aber sie hat sich krank gemeldet«, erwiderte İskender.
»Ach?«, wunderte sich İkmen. Tepe hatte die Nacht ganz offensichtlich nicht zu Hause verbracht. Konnte es sein, dass sich die Dame erholen musste?
İskender zuckte die Achseln. »Mehr weiß ich auch nicht. Übrigens habe ich gehört, dass sich der Konditor, den Sie so hartnäckig verfolgt haben, gestern Abend umgebracht hat.«
Erbost über die Unterstellung, dass er in irgendeiner Form für den Tod von Hassan Şeker verantwortlich war, und über İskenders lässige Haltung gegenüber der Angelegenheit erwiderte İkmen: »Ja, das hat er, Metin. Aber ich glaube nicht, dass das irgendetwas mit mir zu tun hat. Ich würde Ihnen ja meine persönlichen Vermutungen in diesem Fall mitteilen, doch da ich Polizeipräsident Ardiç noch nicht in meine Gedankengänge einweihen möchte, behalte ich sie im Augenblick lieber für mich.«
»Çetin …«
»Irgendjemand hat Ardiç erzählt, dass ich immer noch Erkundigungen über die Umstände von Hatice İpeks Tod einhole!«
»Und Sie meinen, das sei ich gewesen?« İskender schüttelte ungläubig den Kopf und zündete sich eine seiner eigenen Zigaretten an. »Hören Sie, Çetin, auch wenn wir beide sehr verschieden sind, denke ich doch, dass wir einander in beruflicher Hinsicht durchaus Respekt zollen. Ich mag Sie als Mensch nicht besonders, und ich könnte niemals Ihr Freund sein, aber ich respektiere die Entscheidungen, die Sie in einem Fall treffen, an dem ich nicht beteiligt bin und über den ich nichts weiß. Wir alle waren schon mal in der Situation, in der Sie sich jetzt befinden.«
İkmen runzelte die Stirn.
»Sie wollten Ihre Ermittlungen weiterführen«, sagte İskender und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Und dann hat Ardiç, der über allen Dingen schwebt und, ehrlich gesagt, von nichts eine Ahnung hat, Sie von dem Fall abgezogen. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass Sie weiter ermitteln. Aber ich schwöre bei meiner Ehre und beim Koran, dass Ardiç von mir kein Wort darüber erfahren hat!«
Auch wenn er İskenders Erklärung über den gegenseitigen beruflichen Respekt ziemlich schwülstig fand, glaubte İkmen seinem Kollegen. Metin İskender war ehrgeizig, eigensinnig und nicht besonders charmant, doch er war kein Lügner. Mit seinem Verhalten machte er es einem schwer, warm mit ihm zu werden, aber das war auch schon alles. Während er seine kleine Ansprache hielt, hatte İkmen ihn sorgfältig beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass İskender ihm nichts vormachte. Deshalb entschuldigte er sich, wenn auch sehr rasch und ohne eine weitere Reaktion abzuwarten: »Es tut mir Leid, Metin. Ich habe Sie falsch eingeschätzt.«
Dann ging er durch die weit geöffnete Eingangstür des yalı hinaus in Hikmet Sivas’ üppig blühenden Garten und betrachtete den großen Springbrunnen in der Mitte der Auffahrt, den ein schlecht ausgeführter Gipsschwan zierte. Es handelte sich um eine miserable Kopie des wundervollen Springbrunnens vor dem Eingang des Dolmabahçe Sarayı. Vielleicht hatte Hikmet Sivas ja königliche Ambitionen. Bei dem Gedanken musste İkmen lächeln. Imitierte hier die Kunst das Leben oder – aus Sicht von Sivas’ phantastischem Reichtum – das Leben die Kunst?
İkmen drehte sich um und betrachtete das Haus. In der Nähe eines Fensters bemerkte er eine Bewegung. Es war Tepe, der sich in einem der Schlafzimmer zu schaffen machte. İkmen konnte nur sein graues Gesicht und die tief liegenden Augen erkennen. Normalerweise hätte er Tepe damit beauftragt, Frau Şeker zu befragen, aber angesichts seines gravierenden Versäumnisses im Hinblick auf die Mürens wollte er ihn bei dem İpek-Fall nicht mehr dabei haben. Obwohl er offiziell noch immer im Urlaub war, hatte Mehmet Süleyman sich bereit erklärt, mit der Frau des Konditors zu sprechen – was er inzwischen auch getan haben dürfte.
Ayşe wusste, dass sie dringend etwas an ihrer Situation ändern musste. Es war ein heißer Tag, deshalb hatte sie es für eine gute Idee gehalten, sich nackt auf ihr Bett zu legen. Dass ihr letztlich gar nichts anderes übrig blieb, als regungslos auf dem Bauch zu liegen, stand auf einem anderen Blatt.
Sie wusste immer noch nicht, wie sie es geschafft hatte, aus der Wohnung von Orhans Bruder nach Hause zu kommen. Natürlich hatte
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