Im Gewand der Nacht
schockierenden Nachrichten der vergangenen zwölf Stunden war er viel zu angespannt, um sich selbst ans Steuer zu setzen. »Sie fahren«, sagte er. »Zur Villa von Sivas.«
Tepe stand auf. »Aber …«
»Keine Sorge, ich bin noch nicht mit Ihnen fertig, Orhan.«
İkmen suchte in seinen Taschen nach Zigaretten und Feuerzeug. »Wenn wir im Wagen sind, geht’s sofort weiter.«
»Inspektor …«
»Sie fahren, ich brülle, aber wenn wir da sind, verhalten wir uns wie Profis, verstanden? Offenbar ist jetzt auch Vedat verschwunden. Allah allein weiß wohin.«
»Vedat Sivas? Der Bruder?«
»Ja, Tepe.« İkmen schüttelte ungläubig den Kopf. »Zuerst Hikmet, jetzt Vedat … Und dazu noch die Geschichte mit Hassan Şeker.«
Tepe runzelte die Stirn. »Hassan Şeker? Was meinen Sie damit?«
Bis dahin hatte İkmen keine Zeit gehabt, Tepe zu erklären, warum Süleyman, Yıldız und der Pathologe an diesem Morgen in seinem Büro zusammengekommen waren. Er wollte es ihm gerade mitteilen, als er von İskenders Anruf unterbrochen wurde. Schließlich bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Şekers Tod und der Auseinandersetzung mit Tepe wegen der Müren-Brüder. Hätte İkmen gewusst, dass sie ihre Finger im Spiel hatten, dann hätte er sie aus dem Verkehr ziehen und von Şeker fern halten können – womit dessen Selbstmord möglicherweise verhindert worden wäre, weil sie keine Gelegenheit mehr gehabt hätten, Geld oder irgendetwas anderes von ihm zu verlangen. Plötzlich kam İkmen der Gedanke, dass Hassan Şeker den Abschiedsbrief geschrieben und sich umgebracht haben könnte, um jeglichen Verdacht einer Beteiligung der türkischen Mafia an Hatices Tod auszuräumen. Vielleicht hatte man ihm damit gedroht, seiner Frau oder seinen Kindern etwas anzutun. Doch so bösartig und gewalttätig Ekrem und Celal auch sein mochten, sie waren keine Paten; diese Ehre gebührte ihrem Vater Ali Müren. Andererseits waren sie durchaus fähig, jemandem wie Hassan Şeker ordentlich Angst einzujagen oder die kleine Hatice İpek zu vergewaltigen. Sobald er sich mit dem jüngsten Beweis von İskenders Inkompetenz befasst hatte, würde er nach den Müren-Brüdern Ausschau halten.
»Hassan Şeker ist tot«, teilte er Tepe unumwunden mit. »Er hat gestern Abend Selbstmord begangen. Und bevor wir jetzt losfahren, werde ich Inspektor Süleyman bitten, mit der Witwe über die Müren-Brüder zu sprechen.«
Aus Tepes Gesicht wich sämtliche Farbe, und İkmen bemerkte, wie seine Hände zu zittern begannen.
Obwohl die Villa von Hikmet Sivas ziemlich groß war, besaß sie keine Ausgänge, die sich nicht leicht hätten kontrollieren lassen. Die Eingangstür stand seit dem Moment unter Bewachung, als die Polizei das Gebäude im Zusammenhang mit Kaycees Entführung betreten hatte. Tag und Nacht liefen Beamte in Haus und Garten Streife. Und obwohl die Rückseite der Villa auf den Bosporus hinausging, waren weder das Bootshaus noch das darin liegende Boot aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt worden, wie sich an der zentimeterdicken Staubschicht erkennen ließ. Blieb nur noch die Möglichkeit, dass Hikmet und Vedat schwimmend geflohen waren …
»Man muss diesen Teil des Bosporus schon ziemlich genau kennen«, meinte Çöktin, als İkmen ihn auf diese Möglichkeit ansprach. »Soweit ich weiß, kann man hier leicht unter die Wasseroberfläche gezogen werden. Die Strömungen sind tückisch und sehr gefährlich. Falls die beiden Männer hinausgeschwommen sein sollten, sind sie jetzt wahrscheinlich tot – auch wenn sie sich dicht an der Küste gehalten haben.«
»Und Sie haben in der Nacht nichts Ungewöhnliches bemerkt?«, fragte İkmen, während er sich in einen der üppigen Polstersessel setzte. Von hier aus hatte man einen wundervollen Blick auf den Bosporus, dessen Wasser unterhalb des weit geöffneten Fensters schwappte und gluckste.
»Nein, nichts. Der Polizeipräsident persönlich war bis ein Uhr hier.«
»Hmm.« İkmen betrachtete das Gesicht der alten Frau, die neben ihm saß, und seufzte. »Also, Fräulein Sivas«, sagte er, »es scheint, als wären Ihre Brüder auf magische Weise verschwunden.«
Hale Sivas lehnte den Kopf zurück und schloss müde die Augen. »Solche Dinge können passieren«, sagte sie. »Wie Sie ja wissen.«
İkmen runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
»Ich bin in Haydarpaşa geboren«, sagte Hale, öffnete die Augen und fixierte İkmen. »Nahe genug bei Üsküdar, um von der Hexe Ayşe İkmen gehört
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