Im Gewand der Nacht
sich jedoch, nicht zu weinen. Jetzt blieb keine Zeit dafür, es gab zu viel zu tun. Sie hatte sich bereits den Mantel über ihr Nachthemd gezogen, und abgesehen von den Pantoffeln sah sie damit relativ unauffällig aus. Außerdem hatte sie sowieso keinen weiten Weg zu gehen – einfach nur den Flur entlang und um die Ecke zum Haupteingang. Es würden mit Sicherheit ein paar Taxis draußen warten, und so spät am Abend wäre sie in kurzer Zeit zu Hause. Sobald sie dort ankam, würde sie Mehmet zur Rede stellen. Vielleicht erwischte sie ihn ja auch mit einer anderen Frau – in ihrem Haus. Sie wusste, dass manche Menschen dazu fähig waren.
Zelfa schwang die Beine aus dem Bett und griff nach ihrer Tasche. Diese Bewegungen schmerzten immer noch. So kurz nach einem chirurgischen Eingriff war das nicht verwunderlich, aber sie hatte den Verdacht, dass sie sich auch eine Infektion zugezogen haben könnte. In den letzten Tagen war es sehr heiß gewesen, und außerdem traute sie den antiseptischen Mitteln nicht, die hier im Krankenhaus verwendet wurden. Sie traute sowieso niemandem mehr – außer ihrem Vater. Zelfa öffnete die Zimmertür und schlurfte hinaus auf den Flur, eine Ausländerin in einem riesigen Wintermantel. Sie schaute nach links und nach rechts und machte sich dann eilig auf den Weg zum Ausgang. Auf halber Strecke kam ihr der Gedanke, dass sie wahrscheinlich so aussah wie einer jener unerschrockenen alliierten Kriegsgefangenen in den englischen Filmen über den Zweiten Weltkrieg, der sich im langen Mantel und mit gesenktem Kopf an den Wachen vorbeizuschleichen versucht. Bei dieser Vorstellung musste Zelfa leise lachen. Zumindest beherrschte sie die Landessprache!
In ihrem Krankenzimmer schlief der kleine Yusuf İzzeddin, ohne zu bemerken, dass seine Mutter ihn verlassen hatte.
»Die Sache i s t die, Herr Inspektor«, sagte Hikmet Yıldız und ging neben dem kleinen Glaskasten in die Hocke, »es gibt einen Brunnen oder eine Art Loch unter diesem …« Er suchte vergeblich nach dem richtigen Wort.
»Es sieht aus wie einer dieser Beetkästen, in denen manche Leute ihr Gemüse züchten«, sagte İkmen nachdenklich. »Allerdings bin ich kein Experte auf dem Gebiet.«
»In manchen Kellern gibt es Oberlichter wie dieses«, meinte İskender.
»Genau!«, sagte Yıldız plötzlich ganz aufgeregt. »Genau!«
İkmen hatte eigentlich nicht vorgehabt, mitten in der Nacht in Hikmet Sivas’ mondhellem Garten herumzulaufen. Er wollte nur Yıldız nach Hause schicken und sich dann abwechselnd mit İskender schlafen legen. Aber der junge Beamte hatte ihnen unbedingt etwas zeigen wollen.
Das Fenster oder der Glaskasten, den er entdeckt hatte, befand sich auf der Ostseite des yalı und war oberhalb des Erdbodens an einer Seitenwand des Gebäudes befestigt. Und obwohl man nicht erkennen konnte, was sich darunter befand, konnte es sich nur um eine Art Hohlraum handeln. Ebenso offensichtlich war jedoch, dass nicht einmal ein so dünner Mann wie İkmen von außen durch das Loch gepasst hätte.
»Was befindet sich an dieser Stelle im Inneren des Gebäudes?«, fragte İkmen.
»Nichts«, seufzte Yıldız. »Ich habe überall nachgeschaut, aber nur eine kahle Wand gefunden. Frau Sivas meint, das Haus habe keinen Keller. Sie weiß nicht, wofür das Ding hier gut sein soll.«
»Und ist die Wand massiv?«, erkundigte sich İkmen, der wusste, dass jemand, der nach Geheimgängen suchte, das mit Sicherheit überprüfen würde.
»Nein – aber es gibt viele hohle Wände in diesem yalı « , erwiderte Yıldız. »Frau Sivas sagt, irgendein Pascha habe in früherer Zeit diese dicken Vertäfelungen anbringen lassen, damit das Innere des Gebäudes wie ein französisches Schloss aussah.«
»Frau Sivas scheint eine ganze Menge zu wissen«, sagte İkmen. »Und was ist dort oben in der ersten Etage?« Er schaute hinauf zu einem dunklen Fenster, das dicht unter dem auskragenden Dach lag.
»Das Schlafzimmer von Hikmet Sivas«, antwortete Yıldız.
»Es ist vertäfelt, richtig?«
»Ja, aber es gibt eine Nische in der Außenwand. Man muss erst eine Flügeltür öffnen, um zum Fenster zu kommen«, meinte Yıldız. »Es ist irgendwie eigenartig.«
»Dann sollten wir es uns ansehen«, sagte İkmen.
Yıldız richtete sich auf. »Aber es ist oben, Herr Inspektor.«
»Ich weiß, Yıldız.«
İkmen war, gefolgt von İskender, bereits auf dem Weg zurück ins Haus. Yıldız musste hinter den beiden herlaufen, um sie
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