Im Gewand der Nacht
einzuholen.
»Damals, in der osmanischen Zeit schliefen die Diener in Schränken wie diesem«, erklärte İkmen, während er die hölzerne Nische untersuchte, deren einfaches Glasfenster einen weiten Blick über den Garten gewährte. »Die Fenster waren damals nicht mit Vorhängen versehen, sondern mit geschnitzten Fensterläden.« Er lächelte. »Die osmanischen Herren legten eben größten Wert auf ihre Privatsphäre.«
İskender betrat den Wandschrank und betrachtete die reich verzierten Türen und die dicken grünen Vorhänge zu beiden Seiten des Fensters.
»Sieht nicht so aus, als ob es heute noch benutzt würde«, meinte er.
»Nein.«
»Aber warum hat man hier die Fensterläden entfernt?«, fragte Yıldız. »An einigen der anderen Fenster hängen sie noch.«
»Wer weiß, vielleicht waren sie verrottet.« İkmen strich mit der Hand über eine der Türen. »So etwas kommt vor. Vielleicht wurden sie aber auch aus einem anderen, uns unbekannten Grund entfernt.«
Einen Augenblick lang standen die drei Männer schweigend da. İkmen sah sich mit gerunzelter Stirn nachdenklich um.
»Obwohl unser junger Kollege hier seine Suche nach einem Geheimgang vielleicht etwas übereifrig verfolgt«, sagte er nach einer Weile, »bin ich der Ansicht, dass er nur auf etwas reagiert, das ihm und letztlich uns allen im Blut liegt.«
İskender kam aus dem Wandschrank hervor und stellte sich mit fragendem Gesichtsausdruck neben İkmen. »Inspektor?«
»Ich weiß nicht, ob es an dieser Stadt liegt oder an der Tatsache, dass wir Türken sind«, fuhr İkmen fort. »Aber als Sie sagten, dass die Suche nach Geheimgängen eigentlich eher ins alte Europa gehört als hierher, lagen Sie damit nicht ganz richtig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Überall unter dieser Stadt verlaufen unterirdische Gänge«, erläuterte İkmen. »Tunnel, die schon die Griechen angelegt haben, um ihre Zisternen zu bauen.« Sein Blick verfinsterte sich einen Augenblick lang. »Orte, an denen Männer heutzutage die Leichen junger Mädchen verstecken, wie ich vor nicht allzu langer Zeit erfahren musste. Außer diesen Tunneln gibt es noch Keller und Gänge, die von unseren Vorfahren errichtet wurden und die sich unter der gesamten Altstadt erstrecken. Unsere Tünelbahn in Beyoğlu ist eine der ältesten Untergrundbahnen der Welt. Und wie ein Freund von mir, der aus einer alten osmanischen Familie stammt, zu sagen pflegt: Die Osmanen liebten es, ihr Privatleben mit Mauern zu umgeben. Sie waren verschlossen, düster. Ihre Sultane hasteten im Schutz der Nacht verkleidet durch die Stadt auf der Suche nach leichten Mädchen.« İkmen lächelte. »Und wir sind ihre Nachkommen – Türken, die zum Teil auch heute noch an der Geheimnistuerei ihrer Vorfahren festhalten, und natürlich an der Sittsamkeit ihrer Frauen, wie der Islam sie fordert.«
İskender, der schon gehört hatte, dass İkmen ins Philosophieren geraten konnte, wenn er sich intensiv mit einem Problem beschäftigte, räusperte sich vernehmlich.
İkmen lächelte. »Sie glauben wohl, dass ich mich gerade in Gedanken verliere.« Er stellte sich in den Wandschrank und betrachtete zuerst die Seitenwände und dann die Decke. »Aber je mehr ich darüber nachdenke … Es gibt keinen Grund, warum die Menschen, die außerhalb der Altstadt lebten, nicht auch Tunnel gebaut haben sollen. In Beyoğlu beispielsweise existieren ebenfalls unterirdische Gänge.«
»In Beyoğlu schon«, erwiderte İskender, »und vielleicht auch hier. Aber Inspektor İkmen, wir befinden uns im ersten Stock eines hölzernen Gebäudes. Und Wachtmeister Yıldız hat bereits festgestellt, dass einige der Wände hohl sind.«
»Ja. Aber was er nicht gesehen hat, ist das hier.« İkmen wies auf das Ende einer Art Vorhangschnur.
»Das ist für die Vorhänge«, begann İskender. »Es …«
»Nein, ganz sicher nicht.« İkmen zeigte nach oben, wo das andere Ende der Schnur in einem Loch in der Decke des Wandschranks verschwand. »Treten Sie zur Seite.«
»Was haben Sie vor?«, fragte İskender, als er sah, dass İkmen die Schnur von ihrer Halterung an der Wand löste.
»Wahrscheinlich fahre ich an den Ort, der sich unter dem Oberlicht befindet«, erwiderte İkmen.
Und so war es auch – sobald er die Schnur von der Halterung gelöst hatte, senkte sich der Boden des Wandschranks langsam nach unten.
»Wie Sie sehen, handelt es sich um einen Aufzug«, sagte İkmen, als sein Kopf etwa auf der Höhe von İskenders Hüfte war. »Eine primitive
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