Im Gewand der Nacht
Märchen. Damals lebten die Menschen schließlich immer innerhalb der Mauern.«
»Sie selbst haben so einen unterirdischen Gang nie gefunden?«, fragte İkmen.
»Nein.«
İkmen, İskender und Yıldız tauschten bedeutungsvolle Blicke.
Dann räusperte İkmen sich. »Sie sagten, Ihrer Meinung nach könne niemals etwas Gutes aus dem Besitz dieses yalı erwachsen.«
»Das Haus hat eine unheilvolle Geschichte.« Hale Sivas zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Nicht nur wegen Mahmud Effendi … Ich würde Ihnen das nicht sagen, wenn Hikmet und Vedat jetzt hier wären, aber …« Sie blickte von einem Beamten zum anderen. »… aber mein Bruder hat dieses Haus mit schmutzigem Geld gekauft.«
»Was meinen Sie damit, Fräulein Sivas?«, fragte İkmen.
Wieder schwieg sie eine Weile. Dann begann sie zögerlich: »Ich habe Hikmet nur einmal in Amerika besucht, im Gegensatz zu Vedat, der jedes Jahr hinfährt. Bei meinem Besuch hat te Hikmet gerade erst seinen zweiten Hollywoodfilm fertig gestellt. Er nahm mich mit nach Las Vegas. Ich sah eine Show mit Frank Sinatra und Dean Martin, und danach stellte Hikmet mir die beiden persönlich vor.« Sie lächelte. »Sie waren sehr charmant zu dem jungen türkischen Mädchen, das ich damals war.« Dann verdüsterten sich ihre Züge. »Doch als ich später ein paar von – sagen wir mal – Hikmets engeren Freunden kennen lernte, gefiel mir gar nicht, was ich sah. Ich kann zwar kein Englisch und weiß daher nicht, was genau gesprochen wurde, aber … ich bin nicht dumm. Ich kann sehen, wenn Geld von einer Hand in die nächste wandert, und ich kann hören, wenn aus großen Hotelzimmern Geräusche von unnatürlichen Vorgängen dringen. Hikmet wirkte häufig so angespannt …«
»Angespannt?«
»Ich weiß nicht, in welche Geschäfte Hikmet und Vedat verwickelt waren oder sind. Ich sage nur, dass Allah sie eines Tages dafür bestrafen wird, und innerlich ist Hikmet deswegen sehr zerrissen – das weiß ich.«
»Warum haben Sie uns das nicht schon eher gesagt?«, fragte İkmen.
Hale Sivas zuckte die Achseln. »Was sollte ich Ihnen sagen? Dass meine Brüder Umgang mit schlechten Menschen pflegen?«
»Die möglicherweise für das verantwortlich sind, was mit Ihrer Schwägerin geschehen ist«, entgegnete İkmen. »Ja, genau das.«
»Aber wie hätte Ihnen das helfen sollen?« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne keinen einzigen dieser Leute. Das sind Ausländer. Ich spreche ihre Sprache nicht.«
»Also haben Sie weder Hikmet noch Vedat jemals danach gefragt?«
»Ich sage meinen Brüdern lediglich, dass sie sich wie anständige Moslems benehmen und die Ungläubigen von sich fern halten sollen. Beide kennen meine Meinung dazu ganz genau. Die Welt liebt Hikmet Sivas, doch für mich ist er eine Enttäuschung.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Stimme brach. »Ich habe ihm damals gesagt, er solle nicht nach Ame rika gehen, sondern lieber hier Filme machen, aber er hat sich nicht darum gekümmert! Ich habe ihm gesagt, er solle keine ungläubigen Frauen heiraten, die ihm nur christliche Kinder schenken, aber auch das hat er ignoriert. Ich habe ihm gesagt, er solle dieses yalı nicht kaufen, aber er hat es trotzdem gemacht. Natürlich tut es ihm nachher immer furchtbar Leid, und dann bittet er mich die ganze Zeit um Vergebung und verspricht mir, dass Vedat sich immer um mich kümmern wird …«
»Warum wohnen Sie dann hier, wenn Sie dieses yalı und seine Geschichte verabscheuen?«
Hale Sivas blickte İskender finster an. »Weil ich bei meinem Bruder Vedat leben muss; es gibt sonst niemanden, der sich um mich kümmert. Ich wohne dort, wo er wohnt, und mit meinen Gebeten und meinem keuschen Lebenswandel bemühe ich mich, den bösen Geist Mahmud Effendis in Schach zu halten. Vielleicht wird Allah in seiner Weisheit mein Leiden sehen und meinen Brüdern die Weibergeschichten und schlechten Taten vergeben.«
Yıldız, für den Geister kein so alltägliches Gesprächsthema darstellten wie für İkmen, räusperte sich unwillkürlich.
Hale Sivas starrte ihn an. »Sie glauben nicht an Geister, wie?«, fragte sie barsch. »Sie glauben nicht, dass die Verdammten umherwandern? Zu gebildet, was?«
»Nein.« Doch der junge Beamte senkte den Kopf.
»Nach dem, was wir gerade erlebt haben, glaube ich nicht, dass Wachtmeister Yıldız, Inspektor İskender oder ich widerlegen können, dass solche Dinge geschehen«, sagte İkmen.
Sie sah ihn an. »Ach ja?«
İkmen lächelte.
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