Im Gewand der Nacht
Konstruktion, aber da sie so leichtgängig ist, muss sie erst kürzlich geölt worden sein. Ich nehme an, dass die Sivas-Brüder das getan haben.«
»Sie glauben, Hikmet und Vedat Sivas haben dieses Ding gebaut?«
»Das bezweifle ich«, erwiderte der inzwischen unsichtbare İkmen mit gedämpfter Stimme. »Dafür sieht es viel zu altertümlich aus. Nein, wahrscheinlich haben sie es nur entdeckt … Es ist sehr dunkel hier unten …«
»Haben Sie eine Taschenlampe, Herr Inspektor?«, erkundigte Yıldız sich besorgt.
»Ja.«
İskender und Yıldız schauten nach unten in das Loch, wo sich einmal der Boden des Wandschranks befunden hatte. Als der Aufzug endlich zum Stehen kam, konnten sie nur noch das Seil sehen, das sich in einer tiefen, fast greifbaren Dunkelheit verlor.
»Inspektor İkmen …«
Einen Augenblick lang geschah nichts. Die beiden Polizeibeamten blickten einander besorgt an. İskender dachte, er hätte niemals zulassen dürfen, dass İkmen ganz allein einen unbekannten Ort wie diesen aufsuchte. Gut, der ältere Kollege war für seine Impulsivität bekannt, aber das würde İskender nicht von aller Schuld freisprechen, falls ein Unglück geschah. Er hätte mit ihm zusammen in den Aufzug steigen müssen; nur Allah wusste, was da unten auf İkmen wartete.
»Hier ist ein Durchgang.« İkmen musste beinahe schreien, um sich verständlich zu machen.
İskender atmete erleichtert auf. »Kommen Sie wieder rauf«, rief er. »Dann fahren wir zusammen runter.«
»In Ordnung.«
In den Tiefen des Lochs begann sich irgendetwas langsam wieder nach oben zu bewegen.
İskender schaute Yıldız an, der herausplatzte: »Ich hab Ihnen ja gesagt, es muss einen Geheimgang geben, Herr Inspektor!«
Und İskender, der normalerweise nicht die kleinste Insubordination durchgehen ließ, musste laut lachen.
Hale Sivas wusste nichts von der Existenz des Tunnels, der über den seltsamen, altertümlichen Aufzug vom Schlafzimmer ihres Bruders zu der Reihe kleiner osmanischer Häuser führte, die jenseits der Gartenmauer standen. Die baufälligen Gebäude waren an einem unbefestigten Weg entlang der Ostseite des Gartens errichtet worden und inzwischen unbewohnt; zumindest hatten İkmen und seine Kollegen niemanden gesehen, als sie aus dem Tunnel kletterten und sich in der Küche des mittleren Hauses wiederfanden. Natürlich hatten sie Fräulein Sivas nichts davon erzählt – bisher.
»Diese kleinen Häuser gehören zum yalı « , sagte sie und ließ sich in einem der Sessel mit Blick auf den inzwischen tiefschwarzen Bosporus nieder. Sie konnte überhaupt nicht verstehen, warum der Sohn der Hexe Ayşe sie aus dem Schlaf gerissen hatte, nur um über das Anwesen zu reden, während Hikmet und Vedat sich vermutlich noch immer in Lebensgefahr befanden. Sie zog ihr Kopftuch so fest wie möglich um ihr Gesicht. »Hikmet hat sich nie darum gekümmert. Ich hätte mich auch dagegen verwahrt, wenn er es vorgehabt hätte. Die Häuser sind in einem schrecklichen Zustand.«
»Wofür wurden sie früher genutzt?«, fragte İkmen und gab İskender und sich selbst Feuer. »Auf mich machen sie den Eindruck, als stammten sie aus dem neunzehnten Jahrhundert.«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte Hale Sivas mit verkniffenem Gesicht, als verbände sie mit den Häusern unangenehme Erinnerungen. »Es heißt, sie seien von Mahmud Effendi errichtet worden.« Dann verstummte sie und wandte den Blick ab.
»Mahmud Effendi?«
»Der paşa, dem das yalı früher einmal gehörte«, sagte sie. »Ein unangenehmer und unmoralischer Mann. Ich habe Hikmet damals geraten, das Anwesen nicht zu kaufen, weil ich der Meinung war, dass niemals etwas Gutes dabei herauskommen konnte. Und ich habe Recht behalten.«
»Inwiefern?«, fragte İkmen.
»Insofern, als manche Orte vom Unheil verfolgt sind«, sagte sie und fixierte İkmen. »Sie wissen, was ich meine. Es heißt, Mahmud Effendi habe zu den Männern gehört, die Sultan Abdülhamit II. mit Informationen über andere Leute versorgten – besser gesagt mit Lügen. Diese Leute wurden dann gefoltert, und viele von ihnen starben.« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Andere Geschichten berichten von seinen unnatürlichen Gelüsten. In den Häusern, nach denen Sie gefragt haben, hatte er seinen Harem untergebracht – alles Knaben. Ich habe mal gehört, dass er sogar einen unterirdischen Gang vom yalı zu einem der Häuser bauen ließ, damit er die Jungen unbemerkt aufsuchen konnte. Aber das ist bestimmt nur ein
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