Im Gewand der Nacht
»Sie müssen wissen, dass Mahmud Effendis Geheimgang tatsächlich existiert: hinter seinen eleganten französischen Holzvertäfelungen. Er ist über einen Aufzug erreichbar. Wir sind gerade erst dort unten gewesen. Der Gang führt vom Schlafzimmer Ihres Bruders Hikmet unter dem Garten hindurch zu einem der verfallenen Häuser. Es ist ziemlich dunkel und unheimlich da unten, aber der Gang wurde erst kürzlich benutzt. Wir glauben, dass Ihre Brüder das Haus auf diesem Weg verlassen haben.«
Hale Sivas wirkte ernsthaft schockiert.
»Allerdings wissen wir immer noch nicht, warum sie verschwunden sind«, fuhr İkmen fort. »Wenn keiner Ihrer Brüder Ihre Schwägerin ermordet hat, dann hatten sie doch gar keinen Grund, das Anwesen zu verlassen – es sei denn, sie wissen, wer Kaycee umgebracht hat.«
»Aber hätten sie Ihnen das denn nicht gesagt?«
»Nicht wenn sie selbst in irgendwelche illegale Machenschaften dieser Leute verstrickt sind«, erwiderte İkmen. » Genau das habe ich Ihnen ja schon zu Anfang unseres Gesprächs erzählt: Vedat hat versucht, Hikmet daran zu hindern, uns einzuschalten. Dafür muss es einen anderen Grund gegeben haben als den, den Sie uns nannten – sein Misstrauen gegenüber der Polizei. Ich persönlich glaube, dass Kaycees Tod mehr mit Hikmets Verbindung zu diesen Leuten zusammenhängt als mit ihr selbst. Wie ich bereits sagte, halte ich das Ganze für eine Art Warnung.« Er lehnte sich zu Hale Sivas hinüber und fragte: »Was meinen Sie dazu?«
Hale war nicht in der Lage, İkmens Blick standzuhalten, sondern schaute zur Seite.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie traurig. »Manchmal will Vedat über seine Ängste und Sorgen reden, aber dann verschließe ich immer meine Ohren. Ich will nichts über das Böse wissen. Es kann die Seele vergiften …«
»Das ist aber sehr schade«, entgegnete İkmen und erhob sich wütend aus dem Sessel. »Hätten Sie das Risiko auf sich genommen, dann wüssten wir jetzt vielleicht, wo Ihre Brüder sind und bei wem. Las Vegas, wo Sie Frank Sinatra und Dean Martin kennen gelernt haben, war zu Beginn der sechziger Jahre fest in der Hand der Mafia, und wenn Hikmet und Vedat in irgendeiner Verbindung zur Mafia stehen oder standen, dann können Sie sich Ihre Gebete wahrscheinlich sparen.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum. Kurz danach folgten ihm İskender und Yıldız leise und überließen die alte Frau ihren Tränen.
15
Muazzez Heper gestattete ihrer Schwester, sie zum Bürgersteig zu begleiten, um ein Taxi für sie heranzuwinken, mehr aber auch nicht. »Er will ausdrücklich nur mich sehen«, sagte sie und hielt sich an Yümniyes Arm fest, während sie auf die Bordsteinkante zugingen. »Ich habe ihm immer gesagt, dass du von nichts weißt.«
Yümniye runzelte die Stirn, was ihre blinde Schwester natürlich nicht sehen konnte. »Wir hätten Çetin davon erzählen sollen.«
»Das hättest du doch fast schon getan«, erwiderte Muazzez bissig.
»Ja.«
»Diese ganze Sache ist viel größer, als du dir vorstellen kannst, Yümniye.«
»Ja, aber wir haben doch nichts mit dem Tod des Mädchens zu tun!«
»Das ist vollkommen unerheblich!« Muazzez richtete ihre trüben Augen auf Yümniye und setzte eine finstere Miene auf. »Jetzt ruf mir bitte ein Taxi. Ich will keine Zeit verlieren.«
Yümniye seufzte und befreite ihren Arm zögernd aus Muazzez’ Umklammerung. Eines der vielen Dinge, die Istanbul im Überfluss besaß, waren Taxis. Die leuchtend gelben und an der Seite mit einer Registrierungsnummer versehenen Wagen wurden von einer Spezies gefahren, die zwei Machoidealen nacheiferte – Geschwindigkeit und Vormachtstellung auf der Straße. Sofort hielt ein Taxi vor den beiden Frauen am Straßenrand an.
Yümniye öffnete die hintere Tür und half ihrer Schwester in den Wagen zu steigen. Es empfahl sich nicht, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, vor allem nicht bei älteren Modellen wie diesem Taxi, deren Bremsen häufig nicht mehr die besten waren.
»Meine Schwester möchte nach Sultanahmet, in die İshak Paşa Caddesi«, erklärte sie dem Fahrer, »bis kurz vor die Eisenbahnunterführung.«
Der Taxifahrer zuckte nur die Achseln und trat aufs Gaspedal.
»Pass auf dich auf, Muazzez«, sagte Yümniye leise, als ihre Schwester mit hoher Geschwindigkeit Richtung Bosporusbrücke verschwand, um »ihn« zu treffen – den Mann, den Yümniye trotz allem gerne einmal kennen gelernt hätte. Schließlich hatte er ihnen ihren Lebensstil ermöglicht und
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