Im Herzen des Kometen
für alle Katastrophen und Notzeiten Sündenböcke gesucht und gefunden: die Fremden, die Juden, die Aussätzigen. Sie waren unter den Händen verzweifelter und erbitterter Menschen gestorben, weil eine einfache Denkart für Seuchen und Hungersnöte, deren Ursachen sie nicht erklären konnte, Schuldige brauchte.
Man durfte das Potential menschlichen Aberglaubens und menschlicher Dummheit niemals unterschätzen. Es schien, daß immer mehr Besatzungsmitglieder dazu übergingen, in ihren Schutzanzügen in abgelegenen Stollen zu schlafen. Und manchmal unterlagen sie dort draußen der Krankheit, und sie starben allein.
»Ich habe verschiedene Leute in den Territorien der Gruppen gebeten, Meldungen über Vermißte zu machen. Ob es uns nützen wird, wird sich erweisen.«
Stammesterritorien, dachte Saul. »Sie können mit allen reden, und alle reden mit Ihnen, nicht wahr, Lani?«
Sie erwiderte seinen Blick ein wenig unsicher. »Nun ja, ich nehme an, niemand fühlt sich von mir bedroht. Ich bin ein ziemlich harmloser Typ. Die Leute neigen dazu, sich mir anzuvertrauen.«
Saul lächelte. Lani besaß Intelligenz, Takt und Einfühlungsvermögen. Kein Wunder, daß jeder, der sie ein wenig kannte, ihr sein Vertrauen schenkte.
»Nein, das ist nur ein Teil davon, Lani. Sie sind eine Art Mittlerin, eine Ortho, die sich aber nicht von Vorurteilen gegenüber Percellen bestimmen läßt. Sie sind… wie nennt man es?«
»Percephil, denke ich.«
Ihr Lachen hatte einen nervösen Unterton.
Er nickte. »Sie sind die einzige von uns Überlebenden der Ersten Wache, denen die meisten der Wiedererweckten zu vertrauen scheinen.«
»Weil sie wissen, daß ich bloß eine Arbeiterin war und nichts mit der Entscheidung zu tun hatte, wer aufgetaut werden sollte. Dafür machen sie den armen Carl verantwortlich… Aber man sollte das nicht allzu ernst nehmen. Die Leute sind jetzt verärgert, aber wenn sie drei unentbehrliche Personen aus der gesamten Expedition auswählen müßten, würden sie sich für ihn, für Virginia und für Sie entscheiden.«
Saul lächelte. Was für ein liebes Kind! Vielleicht wäre die kleine Rachel wie sie geworden, aber mit dunklen Mandelaugen.
Fast hätte er sie gefragt, wie die Dinge mit Carl stünden. Gerüchtweise verlautete, daß sie von Zeit zu Zeit beisammen waren, wenngleich auf einer offensichtlich bei weitem weniger verpflichtenden Ebene, als Lani lieb gewesen wäre. Er bedauerte dies; es wäre gut zu wissen, daß sich etwas zwischen ihnen entwickelte, und wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, daß es Carls hartnäckige Verärgerung wegen Virginia verrauchen lassen könnte.
Saul zog es vor, das Thema unerwähnt zu lassen. Wahrscheinlich würde er damit nur ins Fettnäpfchen treten.
Behutsam, um die Massenträgheit zu kompensieren, hob er sein Mikrowellengerät auf und nickte ihr zu. »Auf, zurück an die Arbeit!«
Lani startete die Maschine. Er hielt sich vorn fest und ließ sich durch eine lange Stollenstrecke tragen, während er wachsam die nahen, grün überzogenen Wände beobachtete.
Die zur ›Fabrik für Rückstoßgeräte‹ ausersehene Kaverne gähnte finster wie eine vorsintflutliche Höhle. Dort lag das rückwärtige Stück der Transportsonde Delsemme inmitten ungeöffneter Lattenverschläge und Maschinenteilen. Im Schein ihrer Helmlampen war zu sehen, daß verschiedenfarbige fadenartige Gewächse die Flanken der Sonde überwuchert hatten und ihre Umrisse flaumig verwischte. Die Kaverne sah aus, als sei sie seit Jahren nicht mehr betreten worden. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß sie irgendwann einmal hell beleuchtet sein und von Geschäftigkeit summen würde, was notwendig war, wenn sie die Heimat jemals wiedersehen wollten.
Carl und Jeffers waren offenbar anderwärts zu sehr beschäftigt, um heraufzukommen und sich hier umzusehen. Saul fragte sich, ob es nicht besser wäre, ihnen zu verschweigen, wie es hier aussah.
»Gehen wir je einmal mit den Frequenzen drei Komma fünf und zehn durch«, sagte er zu Lani. »Anschließend nehmen wir uns dann die Inventur vor, die Dr. Oakes haben möchte.«
Lanis Maschine bewegte sich unter ihrer Steuerung in den Höhlenraum. Eine Serie kurzer Summtöne war begleitet von allenthalben aufsteigenden Wolken, als der Algenbewuchs unter der Mikrowellenbestrahlung zerfiel.
Wenn die Behandlung der Krankheiten nur ebenso einfach wäre, dachte Saul.
»Hierher, Saul«, flüsterte Lanis Stimme aus seinem Kopfhörer. Er beendete die
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