Im Innern des Wals
sah, um der Pfütze auszuweichen, erkannte ich das Geheimnis, sah, welch ungeheuerliches Unrecht es ist, einem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen, das in voller Blüte ist. Dieser Mann lag nicht im Sterben, er lebte, wie wir, all seine Organe arbeiteten - die Därme verdauten Nahrung, die Haut erneuerte sich, die Nägel wuchsen, das Gewebe bildete sich -, alles arbeitete weiter in feierlicher Torheit. Seine Nägel würden noch wachsen, wenn er schon auf dem Fallbrett stand, wenn er ins Leere fiel und nur noch eine Zehntel-Sekunde zu leben hatte. Seine Augen nahmen
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den gelben Kies und die grauen Mauern wahr, sein Hirn war
noch imstande, sich zu erinnern, vorauszusehen, achtzugeben selbst auf eine Pfütze. Er und wir waren Menschen, die
gemeinsam einen Weg zurücklegten, welche die gleiche Welt
erblickten, hörten, fühlten, begriffen, und in zwei Minuten, mit einem plötzlichen Knack, würde einer von uns nicht mehr da sein, ein menschliches Wesen weniger, eine Welt weniger.
Der Galgen stand in einem kleinen, von hohem stachligem
Gras überwucherten Hof hinter dem Hauptkomplex der
Gefängnisgebäude. Er bestand aus drei Ziege lwänden, wie bei einem Schuppen, und einem Holzpodest. Zwei Pfähle und eine waagerechte eiserne Schiene, von der ein Strick herabhing, bildeten den eigentlichen Galgen. Der Henker, ein weißhaariger Gefangener in weißer Sträflingskleidung, stand bereits neben dem Apparat. Bei unserem Erscheinen grüßte er mit einer
devoten Verbeugung. Auf einen Zuruf von Francis packten die beiden Wärter den Verurteilten noch fester, führten ihn, halb schiebend, halb stützend, zum Galgen und halfen ihm
umständlich die Leiter hinauf. Nach ihm kletterte der Henker nach oben und legte ihm den Strick um den Hals.
Wir warteten unten in einer Entfernung von etwa fünf Yards.
Die Wärter umstanden das Podest in einem unregelmäßigen
Kreis. Und dann, als die Schlinge geknüpft war, begann der Gefangene laut seinen Gott anzurufen. Mit hoher,
gleichförmiger Stimme wiederholte er in einem fort monoton eine Silbe: »Rem - Rem - Rem - Rem...«, nicht drängend und ängstlich wie ein Gebet oder ein Hilferuf, sondern gleichförmig und regelmäßig wie das Läuten einer Glocke. Der Hund
antwortete mit Gewinsel. Der Henker, der noch immer oben auf der Plattform stand, zog einen kleinen Baumwollsack hervor, einem Mehlsack ähnlich, und zog ihn dem Verurteilten über den Kopf. Aber das Rufen hielt an, jetzt etwas durch den Stoff gedämpft: »Rem - Rem - Rem - Rem...«, gleichmäßig,
unaufhörlich.
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Der Henker kletterte herunter und stand, die Hand am
Mechanismus, bereit. Es schien Minuten zu dauern. Das
einförmige Rufen des Gefangenen ging ohne Unterbrechung
weiter, immer gleichbleibend fest und laut. Der Direktor, das Kinn auf die Brust gesenkt, stocherte mit seinem Stock im Sand.
Vielleicht zählte er mit, hatte dem Gefangenen bis zu einer bestimmten Zahl, etwa fünfzig oder hundert, eine Frist gesetzt.
Wir alle hatten die Gesichtsfarbe gewechselt. Die Inder sahen grau aus wie abgestandener Kaffee, und die Spitzen von einem oder zwei Bajonetten begannen zu zittern. Wir starrten auf den gefesselten Mann mit der Haube über dem Kopf und lauschten auf seine Rufe, von denen jeder eine weitere Sekunde Leben bedeutete. Wir alle hatten nur den einen Gedanken: Tötet ihn schnell macht rasch - macht diesen entsetzlichen Rufen ein Ende!
Plötzlich erwachte der Direktor aus seiner Erstarrung. Mit einem Ruck hob er den Kopf, schwang den Stock in die Höhe
und rief fast zornig: »Chalo!«
Ein klirrendes Geräusch, dann Totenstille. Der Gehängte war verschwunden. Nur der Strick drehte sich um sich selbst. Ich ließ den Hund los. Er lief sofort zur Hinterseite des
Galgenbaues, machte aber, kaum dort angelangt, jäh halt, bellte und zog sich dann in die äußerste Ecke des Hofes zurück, wo er in dem hohen Gras stehen blieb und furchtsam zu uns
herüberblickte. Wir gingen um den Galgen herum, um den
Gehängten zu sehen. Er hing in der Schlinge, die Zehen nach unten gerichtet, leicht schaukelnd und tot wie ein Stein.
Der Direktor hob seinen Stock und stieß damit den nackten
Körper an, er pendelte leicht. »Er ist in Ordnung«, sagte der Direktor. Er trat rückwärts unter dem Galgen ins Freie und atmete tief aus. Sein diskreter Blick war mit einemmal
verflogen. Er schaute auf die Armbanduhr: »Acht Minuten nach acht. Das war's für heute vormittag. Gott sei's gedankt.«
Die Wärter
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