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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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unfreiwilligen Wanderung durch die halbe Stadt: unkrautüberwucherte Trümmerberge, Ruinen, zwischen denen sich armselige Baracken duckten, ausgezehrte und zerlumpte Menschen, die vor den wenigen Lebensmittel-Ausgabestellen des Amtes für Versorgung und Verteilung nach kümmerlichen Rationen Schlange standen. Auf diese bedrückende Aussicht konnte Tubber gut verzichten. Ihm genügte es schon, dass seine ständig gegenwärtigen Kopfschmerzen gerade wieder einem Höhepunkt entgegenstrebten und das Innere seines Schädels mit einem durchdringenden, widerwärtigen dumpfen Hämmern ausfüllten.
»Was ist Ihnen eigentlich da zugestoßen, Herr Leutnant?«, fragte Dünnbrot und deutete auf Tubbers dreckbespritzte Hose.
»Nichts von Bedeutung. Ein Taxifahrer dachte wohl wegen des Mantels, dass ich ein Amerikaner bin, und ist absichtlich durch eine Pfütze gefahren.«
Der Polizist rieb sich die vor Kälte steifen Hände. »Wenn er Sie schon für einen Ami gehalten hat, sollten Sie von Glück reden, dass er Sie nicht gleich auch noch mit einem ehemaligen Schocker verwechselt hat. Dann hätte er Sie sicher überfahren.«
»Ein Schocker ! Als ob ich einem von diesen Perversen ähnlich sehen würde«, entgegnete Tubber angewidert. »Bevor ich's vergesse, sagen Sie bitte dem Fahrer, dass ich zum Friedhofseingang in der Ihlandkoppel möchte.«
»Ihlandkoppel? Das ist doch der jüdische Teil des Friedhofs.«
Dünnbrot sprach diesen Satz ebenso leidenschaftslos und gleichgültig aus wie alles andere, was er sagte. Dennoch fühlte Tubber sich auf einmal sehr unwohl.
»Ich weiß. Meine Frau hat mich gebeten, dort ein Grab zu besuchen. Eine Jugendfreundin ihrer Mutter liegt auf dem Friedhof«, reagierte er schneller, als er eigentlich wollte, auf Dünnbrots Bemerkung. Und er ärgerte sich schon über seine Worte, noch ehe die letzte Silbe ganz über seine Lippen gekommen war. Zu spät war ihm klar geworden, dass er damit indirekt die unausgesprochene Vermutung, er könnte möglicherweise selber ein Jude sein, vorbeugend zurückgewiesen hatte.
Nein, es war schlimmer noch als Ärger. Tubber schämte sich dafür. Schnell wechselte er das Thema: »Gibt es in der Nähe des Friedhofes ein Blumengeschäft?«
»Ein Blumengeschäft ?«, wiederholte Dünnbrot befremdet. »Das letzte geöffnete Blumengeschäft habe ich gesehen, als ich in der Unterprima war, Herr Leutnant.
Vielleicht auch ein Jahr davor.«
»Schon gut«, meinte Tubber, dem erst jetzt zu Bewusstsein kam, wie unsinnig es war, in einem entvölkerten Trümmermeer wie Hamburg so etwas wie eine Blumenhandlung zu erwarten. »Ist nicht so wichtig.«

Der Lastwagen hielt in der Ihlandkoppel, einer kleinen Seitenstraße, die zu beiden Seiten von den hohen Zäunen des Friedhofs Ohlsdorf eingefasst wurde. Tubber und Dünnbrot stiegen aus und begaben sich zu dem breiten Tor, das zum jüdischen Friedhof führte. Der Deutsche drückte die schwergängige Klinke herunter und stemmte sich gegen das schmiedeeiserne Gitter, bis die Scharniere rostig ächzten und der Torflügel den Weg freigab.
Währenddessen hatte Tubber aus einem Schlagloch, das mit grob zerkleinerten Steinbrocken aufgefüllt war, ein Steinchen von der Größe einer Walnuss aufgehoben, das er sich in die Manteltasche steckte.
»Wozu soll das denn gut sein?«, fragte Dünnbrot, der sich die Spuren des feuchten Eisenrosts von den Händen wischte.
»Ein alter jüdischer Brauch, den ich in meiner Zeit in Palästina kennengelernt habe«, erklärte Tubber und trat als Erster durch das Tor. »Man hinterlässt zum Zeichen des Gedenkens einen kleinen Stein am Grab.«
»Tatsächlich? Das wusste ich nicht«, meinte Dünnbrot gleichgültig.
Eine gallenbittere Bemerkung lag Tubber auf der Zunge, doch er schluckte sie ungesagt herunter. »Da entlang«, sagte er stattdessen und ging voraus.
Die beiden Männer folgten dem von kniehohem gelblichem Gras überwucherten Weg, der von langen Reihen hoher Grabsteine gesäumt wurde. Flechten und Moos breiteten sich über den hebräischen Inschriften aus. Unter vielen Steinen hatte der weiche Boden nachgegeben und sie neigten sich schon so weit nach vorne, als würden sie im nächsten Augenblick umstürzen. Bei manchen war dies schon geschehen; sie lagen flach auf der Erde und kehrten ihre Rückseiten mit den deutschen Fassungen der Grabinschriften dem grauen Himmel zu.
Voller Überraschung stellte Tubber fest, dass er keine Probleme hatte, sich zu orientieren. Mit traumwandlerischer Sicherheit, als wäre er

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