Im Jahre Ragnarök
erst gestern und nicht vor dreizehn Jahren zum letzten Mal dort gewesen, ging er die Wege entlang.
»Hier hat sich seit '49 kaum etwas verändert«, stellte er fest. »Waren Sie auch schon mal hier, Kommissar?« »Sehr oft sogar«, bejahte Dünnbrot. »In den frühen Fünfzigern, vor der Grippeepidemie, war hier ein großer Schwarzmarkt. Wir haben hier so häufig Razzien durchgeführt, dass ich das Gelände noch heute auswendig kenne.«
Ein aufwendiges Grabmal wurde sichtbar. Zwei schlanke korinthische Säulen, zwischen denen sich das weiße Marmorrelief einer weitgehend unbekleideten Frauengestalt befand, trugen den dreieckigen Giebel eines griechischen Tempels. Die prunkvolle Stele, flankiert von sechs schlichten kleineren Steinen, hatte weitaus mehr Ähnlichkeit mit einem antiken römischen Ehrenmal als mit dem Grab eines gläubigen Juden. Eine schlichte einzeilige Inschrift am Sockel verriet den Namen des Mannes, der hier begraben lag, Dr. Gabriel Riesser. Und direkt gegenüber dieser auffälligen Grabstätte befand sich, wie Tubber sich augenblicklich ins Gedächtnis rief, das Grab von Gerda Meyer.
Doch dann blieb er irritiert stehen. Das Grab war nicht da. Sämtliche Gräber der Familie Meyer waren verschwunden. Wo sie eigentlich hätten sein müssen, gab es nichts als Gras und ein wenig dürres Gestrüpp.
»Wo sind die Gräber?«, fragte Tubber und zeigte ratlos auf die leere Fläche.
»Welche Gräber?«, erwiderte Dünnbrot. »Soweit ich mich erinnere, gab es an dieser Stelle niemals welche.«
»Nein, das kann nicht stimmen. Es war genau hier, da bin ich mir ganz sicher!«
»Hören Sie, ich kenne mich hier aus. Diese Grabstellen waren nie belegt. Sie müssen sich irren«, bekräftigte Dünnbrot nochmals.
»Aber das ist doch gar nicht möglich! Das Grab muss hier irgendwo sein!«, beharrte Tubber bestürzt. Er schob Astwerk beiseite, durchkämmte mit den Füßen dicht verfilzte Grasbüschel und suchte angestrengt nach Spuren des Grabes.
Doch er entdeckte nichts. Langsam begann er selbst zu zweifeln. Vielleicht täuschte ihn seine Erinnerung wirklich und dies war überhaupt nicht der Ort, an dem Gerda Meyer begraben lag? Aber er verwarf diese Möglichkeit sogleich wieder; das unmittelbar gegenüberliegende Grabmal des Gabriel Riesser, auf das Ingrid ihn damals sogar noch ausdrücklich hingewiesen hatte, war ihm so deutlich im Gedächtnis geblieben, dass ein Irrtum ausgeschlossen schien. Nur wo war dann die letzte Ruhestätte von Gerda Meyer geblieben?
»Wenn wir den Zug erreichen wollen, müssen wir jetzt langsam aufbrechen«, erinnerte Dünnbrot, der Tubber eine Weile schweigend zugesehen hatte.
Der Engländer gab die Suche auf und nickte stumm. Er wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal kurz inne und legte den kleinen Stein dort ab, wo seiner Erinnerung nach das Grab sein sollte. Erst dann machte er sich mit Dünnbrot auf den Rückweg.
Als sie den Friedhof wieder verließen und durch das Tor auf die Ihlandkoppel hinaustraten, grübelte Tubber noch immer wortlos darüber nach, ob ihm sein Gedächtnis einen besonders perfiden Streich gespielt hatte oder ob nicht doch etwas anderes geschehen war, für das er keine Erklärung besaß. Dünnbrot ging voraus in Richtung des wartenden Lastwagens und trat dabei in das aufgefüllte Schlagloch; die Steine knirschten unter seinen Stiefelsohlen.
Das Geräusch bohrte sich in Tubbers Hirn und schwoll zu einem Donnergrollen an. Nun hatte er die Antwort! Er sah hinab auf die grob zerkleinerten Steinbrocken und ahnte, wusste, was seit seinem letzten Besuch mit dem Grabstein von Gerda Meyer und sicher noch anderen Gräbern des Friedhofs passiert sein musste.
»Ihr könnt sie wohl nicht mal in Ruhe lassen, wenn sie tot sind!«, brach es erzürnt aus ihm hervor.
Dünnbrot blieb stehen und drehte sich um. »Wovon reden Sie da überhaupt?«, fragte er verdutzt.
»Davon!«, antwortete Tubber grimmig und zeigte auf die Steine unter Dünnbrots Füßen. »Sie wissen doch ganz genau, worauf Sie da herumtrampeln!«
Der Polizist schaute erst zu seinen Stiefeln hinab, dann hob er den Kopf wieder und verdrehte genervt die Augen. »Jetzt hören Sie aber auf. Sie meinen ernsthaft, das sind die Überreste vom Grab dieser Frau?«
»Von ihrem oder einem anderen, das spielt keine Rolle. Wenigstens ist jetzt klar, was hier vorgeht. Und erzählen Sie mir bloß nicht, Sie wüssten nichts davon!«
Wütend stieg Tubber mit einem weit ausgreifenden Schritt über das Schlagloch hinweg und
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