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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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knapp«, meinte Tubber und atmete erleichtert durch. Die beiden Männer verließen den Einstiegsraum und suchten ein unbesetztes Abteil, was nicht schwerfiel, da der Waggon nahezu leer war. Schnell fanden sie ein gut geheiztes Salonabteil, in dem vier üppig gepolsterte Klubsessel um einen Edelholztisch gruppiert waren.
Tubber brachte Koffer und Mantel in der Gepäckablage über dem Fenster unter und staunte über den unerwarteten Luxus. Obwohl alles ein wenig vernachlässigt wirkte, die Bezüge der Sessel abgescheuert aussahen und die einstmals blank polierten dunkel getäfelten Wände längst matt waren, blieb die gediegene Eleganz eines lange zurückliegenden Jahrzehnts spürbar. Noch nie war Tubber in auch nur entfernt vergleichbarer Umgebung gereist.
Günter Dünnbrot schien das alles nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er hatte Mantel und Mütze achtlos auf einen der Sessel geworfen und sich dann auf dem anderen, an der Fensterseite, niedergelassen. Tubber nahm ihm gegenüber Platz und lehnte sich in den angenehmen Polstern zurück.
»Es hat mich überrascht«, sagte Dünnbrot.
»Das mit dem Sergeant?« Tubber streckte mit einem gequälten Ächzen die Beine durch. »Ich habe so etwas seit Jahren nicht gemacht und bin vollkommen aus der Übung. Das rächt sich jetzt. Mir tut jede einzelne Sehne weh. Hoffentlich habe ich mir nichts gezerrt.«
»Eigentlich wollte ich damit etwas anderes sagen. Es war doch gefährlich. Ich verstehe nicht, wofür Sie so ein Risiko eingegangen sind. Nach den Erfahrungen dieses Nachmittags war ich sicher, Sie würden mich mit Freuden zurücklassen.«
Tubber zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, ja. Nur, was hätte ich sonst machen sollen? Die Zeit drängte, und ich brauche nun mal jemanden, der sich in diesem Land besser auskennt als ich. Es ist schon dreizehn Jahre her, dass ich zum letzten Mal in Deutschland war. Seitdem wird sich wohl eine Menge verändert haben.
Wenn ich meine Aufgabe hier erfolgreich zu Ende bringen will, benötige ich wohl Ihre Unterstützung.« Außerdem war es ein unglaublich gutes Gefühl, endlich mal einem dieser arroganten Amerikaner zu geben, was er verdient , fügte er für sich selbst hinzu, verdrängte aber diesen hässlichen Gedanken schnell wieder.
Tatsächlich tat es ihm sogar leid, den Amerikaner, der ihn ja nicht wirklich angegriffen hatte, niedergeschlagen zu haben. Was dabei in ihn gefahren war, konnte Tubber sich einfach nicht erklären. Er hatte ein schlechtes Gewissen, doch es beruhigte ihn ein wenig, dass sich eine nachvollziehbare Begründung für sein Handeln finden ließ.
»Bisher weiß ich ja noch nicht einmal, wobei ich Sie überhaupt unterstützen soll«, bemerkte Dünnbrot.
»Dazu kommen wir morgen. Jetzt brauche ich erst einmal Schlaf«, meinte Tubber und unterdrückte ein erschöpftes Gähnen. »Die letzte Nacht war nicht sehr erholsam für mich. Wecken Sie mich bitte bei Göttingen, falls Sie dann selber schon wach sind?« »Schlafen Sie nur aus, Herr Leutnant. Göttingen erreichen wir sowieso erst in zwölf Stunden, wenn wir Glück haben. Aber Glück wurde in diesem Land schon lange von der Zuteilungsliste gestrichen.«
»Besten Dank«, murmelte Tubber, schloss die Augen und war gleich darauf eingeschlafen.
Eine Weile betrachtete Dünnbrot den leise schnarchenden Engländer. Er kannte die Menschen gut genug, um zu sehen, dass mit diesem Mann irgendwas nicht stimmte. Alles Unvorhergesehene brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Was dahinter steckte, konnte Dünnbrot sich nicht erklären; eines aber wusste er ganz genau: Er konnte diesen Engländer nicht ausstehen. Wenigstens würde er nur für kurze Zeit an ihn gekettet sein. Und eigentlich war es ja auch egal, wie überhaupt alles egal war.
Dünnbrot blickte aus dem Fenster, doch jenseits der vibrierenden Glasscheibe herrschte absolute Finsternis. Nirgendwo durchdrang ein Lichtschimmer die Schwärze.
Es war, als ratterte der Zug durch ein endloses, düsteres Nichts dahin.
» Lang ist die Nacht, die nie den Tag findet «, sagte Dünnbrot leise zu sich selbst, holte ein zerdrücktes Reclam-Heft aus der Tasche und vertiefte sich in den Auftrittsmonolog Richards III.
     

7. März, Im Habichtswald bei Kassel
    Tubber blickte die dunkle Felswand hinauf, die sich vor ihm erhob. »Dort oben?«, fragte er erstaunt.
»Genau so verhält es sich, Lieutenant«, bestätigte Captain Bryan Hollingsworth von den 10th Royal Hussars . »Jenes ist der Ort, an welchem wir den Dahingeschiedenen

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