Im Jahre Ragnarök
ging auf den Lastwagen zu, ohne ein weiteres Wort von sich zu geben.
»Idiot«, brummte Dünnbrot.
Wie eine albtraumhafte Kathedrale überspannte die Halle des Hamburger Hauptbahnhofs als kahles Eisenskelett, ausgeglüht im Feuersturm der Bombennächte, die Bahnsteige. Nackt und dürr verlor sich das rußgeschwärzte Gitterwerk im Nachthimmel; nicht eine Glasscheibe war verblieben, die den Blick auf die kalt flimmernden Sterne versperren konnte. Aber niemand sah nach oben. Die Menschen, die sich vor dem einzigen Zug drängten, hatten Wichtigeres zu tun. Jeder versuchte, sich mit allen Mitteln einen Weg zu den Einstiegstüren der Waggons zu bahnen.
Wütendes Brüllen, Schmerzensschreie, aufgeregtes Kreischen, das Weinen kleiner Kinder, alles vermengte sich zu einem tausendstimmigen Dröhnen, in dem jedes andere Geräusch versank.
»Was für ein Chaos«, stöhnte Tubber, der sich mit Dünnbrot zu dem Waggon für Angehörige der Besatzungsmächte durchkämpfte. »Und ich dachte immer, Bahnfahren in England sei schlimm. Das ist ja die Hölle!«
Dünnbrot stieß einen Mann mit Kartoffelsack über der Schulter beiseite und kümmerte sich nicht um die Verwünschungen, die er sich dafür einhandelte. »Daran sind die Gerüchte schuld«, sagte er ungerührt. »Wenn es heißt, dass es irgendwo anders noch Lebensmittel gibt, kommt es jedes Mal zu solchen Völkerwanderungen.«
Die beiden Männer schoben sich durch die wogende Menge, bis sie den Waggon gleich hinter der Lokomotive erreichten. Im Gegensatz zu den übrigen Wagen des Zuges, deren Fenster zumeist mit Brettern vernagelt waren, falls es sich nicht ohnehin nur um notdürftig umgebaute Güterwaggons handelte, verfügte dieser frühere Schnellzugwagen über intakte Glasfenster. Durch die graubraune Dreckschicht, die ihn überzog, schimmerte eine ehemals elegante Lackierung in Elfenbein und Violett; unterhalb der Fenster angeschraubte breite Buchstaben, erstaunlicherweise noch vollständig vorhanden, bildeten das Wort RHEINGOLD . Daneben verkündete ein sauberes, wohl erst kürzlich hinzugefügtes Schild:
Property of U.S. Army Transportation Corps.
Der Einstieg wurde von einem stämmigen amerikanischen Sergeant bewacht.
Tubber zeigte ihm seine Papiere vor, erhielt ein gleichgültiges »Okay« als Reaktion und durfte passieren. Dünnbrot wollte folgen, doch der Amerikaner stellte sich ihm in den Weg und fuhr ihn rüde an: »Du kommst hier nicht rein!«
Tubber stieg wieder aus, um das vermeintliche Missverständnis aufzuklären.
»Das hat schon seine Richtigkeit, Sergeant«, versicherte er. »Der Mann gehört zu mir.«
»Und wenn schon. In diesem Wagen hat er trotzdem nichts zu suchen. Er soll in einen der hinteren Waggons steigen, wo er hingehört«, entgegnete der Sergeant gereizt.
Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus und ließ mit lautem Zischen eine aufquellende Wolke von weißem Dampf ab. Der Zug würde jeden Moment abfahren; Tubber wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben, um die Angelegenheit zu klären und redete eindringlich auf den amerikanischen Soldaten ein: »Hören Sie, dieser Mann wurde mir offiziell als Begleiter zugewiesen. Er muss mitkommen.
Und Sie wissen genau, dass der Rest des Zuges vollkommen überfüllt ist. Uns bleibt keine Zeit mehr, lassen Sie ihn einfach einsteigen.«
»Bullshit!«, brüllte ihm der Sergeant ins Gesicht. »Ihr Krautfreund hat hier nichts zu suchen, geht das nicht in Ihren Schädel? Und jetzt halten Sie das Maul, Limey !« Der Amerikaner stieß ihn grob zurück. Tubber taumelte kurz, fand aber fast augenblicklich das Gleichgewicht wieder und reagierte schneller, als er selbst für möglich gehalten hätte. Noch ehe der Sergeant begreifen konnte, was geschah, hatte Tubber ihm schon das Knie in die Lenden gerammt. Der Amerikaner stieß ein heiseres Keuchen aus und klappte zusammen wie ein Scharnier; Tubber nutzte die Gelegenheit, packte den Soldaten am Mantelkragen und riss ihn heftig nach vorne, sodass sein Kopf gegen den Metallrahmen der Waggontür schlug. Während der Sergeant zusammensackte, setzte sich der Zug in Bewegung.
»Beeilung, Kommissar«, rief Tubber aus, griff Dünnbrot am Arm und zog ihn mit sich ins Innere des Wagens. Sie schlossen die Tür und konnten durch das Fenster gerade noch erkennen, wie sich der Amerikaner mühsam wieder aufrappelte, drohend die Faust schwang und ihnen mit schmerzverzerrten Zügen etwas hinterherschrie, das im schweren Stampfen der anfahrenden Lokomotive unterging. »Das war
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