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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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dieser unterernährten Karikatur eines Polizisten losziehen? Und wenn ich etwas von ihm will, soll ich es wohl auf Deutsch zusammenstottern, weil dieser dürre Jerry ja keine zivilisierte Sprache versteht!«
»Oh, machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Gedanken«, bemerkte Lieutenant Morris mit süffisantem Lächeln. »Kommissar Dünnbrot spricht nämlich fließend Englisch.«
Tubber wusste nicht recht, ob er es sich nur einbildete, aber ihm war, als würde sein Kopf innerhalb eines Sekundenbruchteils tiefrot anlaufen.
Als Tubber und Dünnbrot das Stabsgebäude verließen und auf den Kasernenhof hinaustraten, wehte ihnen ein kalter Windstoß die letzten Tropfen des versiegenden Regens in die Gesichter.
»Was ich da eben gesagt habe ...«, versuchte Tubber, eine Entschuldigung zu formulieren. »Sehen Sie ... ich meine, das ist mir so herausgerutscht, und ...«
» Glücklich sind, die erfahren, was man an ihnen aussetzt. Also vergessen wir das«, entgegnete Dünnbrot gleichgültig, während er die ausgeblichene Schirmmütze aufsetzte und dann die Knöpfe seines alten Uniformmantels schloss. »Wie geht es jetzt weiter, Herr Leutnant?«
Der erste Satz des Deutschen ließ Tubber kurz aufhorchen. Er hatte das Zitat aus Viel Lärm um nichts erkannt und fragte sich verwundert, wie dieser abgerissene Polizist ausgerechnet zu Shakespeare kommen mochte. »Wir müssen nach Kassel.
Wie gelangen wir am besten dorthin?«
»Kassel? Warten Sie mal ... heute Abend um sieben sollte eigentlich der wöchentliche Zug nach München abfahren, falls dafür noch genügend Kohle vorhanden ist. Er führt einen Waggon für Angehörige der Besatzungsmächte mit.«
»Um sieben? Das sind ja nur noch drei Stunden!«
»Ja, und? Haben Sie etwa noch was vor?«, fragte Dünnbrot und vergrub die Hände tief in den Manteltaschen.
»Ich wollte eigentlich noch ein Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof besuchen.
Das werde ich wohl bis zu meiner Rückkehr aufschieben müssen. Die Zeit ist zu knapp, so schnell komme ich zu Fuß nicht dorthin.«
»Ein Grab besuchen ... na, wenn's Ihnen Freude macht.« Dünnbrot deutete ein verständnisloses Kopfschütteln an. »Vielleicht kann ich Ihnen da helfen. Kommen Sie mit, Herr Leutnant.«
Er führte Tubber durch die wie verlassen daliegende Kaserne bis zu einem Lagerschuppen.
An der Laderampe stand ein rostiger, holzgasgetriebener Opel Blitz, an dessen Türen mit abblätternder weißer Farbe die kaum noch lesbaren Buchstaben OD aufgemalt waren. Eine Handvoll britischer Soldaten war damit beschäftigt, Kohlensäcke von der Ladefläche ins Innere des Schuppens zu schleppen.
Dünnbrot klopfte an die Scheibe des Führerhauses. Die Tür öffnete sich mit einem blechernen Knarren und der Fahrer, der ebenfalls eine blaue Ordnungsdienst-Uniform trug, streckte sein vierschrötiges Gesicht heraus. »Mensch, Günter!«, röhrte er und grinste breit. »Mit dir hab' ick hier jar nich' jerechnet. Wat machste denn hier?«
»Sonderauftrag«, gab Dünnbrot zur Antwort. »Und wie sieht's bei dir aus, Karl?
Die Razzia auf dem Schwarzmarkt in St. Pauli war wohl erfolgreich, oder?«
»Jeht so, siehste ja. Dreißig Säcke, mehr war nich'. Irjendwie ham die Brüder vorher Wind bekommen. Aba für zwei, drei Tage muss sich der Tommy jetzt nicht mehr dat empfindliche Ärschlein abfriern. Da sind wa aba glücklich.«
Tubber räusperte sich unwillkürlich und zog damit die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich, der ihn feindselig musterte und dann argwöhnisch fragte: »Sachma, wat haste denn da anjeschleppt, Günter? 'n Ami?«
»Nein, nur einen Engländer. Wie sieht's aus, kannst du uns zum Ohlsdorfer Friedhof und danach zum Bahnhof bringen?«
»'n Engländer, wa?« Er blickte Tubber noch mal scharf an und meinte schließlich:
»Na jut. Steigt ein, Tür is' offen. Wenn die Bürschlein da irjendwann noch mal mit Abladen fertig werden, fahrn wa los.«
Tonfall und Miene gaben Tubber überdeutlich zu verstehen, dass er ganz und gar nicht willkommen war; trotzdem ging er mit Dünnbrot auf die Beifahrerseite des Lastwagens und stieg nach dem Polizisten ein. Er wollte die Erfüllung des Versprechens, das er seiner Frau gegeben hatte, auf keinen Fall hinausschieben, selbst wenn er dafür das Fahrzeug mit diesem widerstrebenden Fahrer teilen musste.
Das beschlagene Seitenfenster verwehrte Tubber während der Fahrt den Blick nach draußen, und es war ihm ganz recht so. Er wusste, dass sich ihm doch nur die gleichen Bilder bieten würden wie auf seiner

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