Im Jenseits ist die Hölle los
Toten unterscheiden kann.«
Ich registrierte, dass die Toten im Allgemeinen ärmli cher und weniger modisch gekleidet waren als die Le benden. Man sah, dass es Finnland wirtschaftlich gera de ausgezeichnet ging. Aber auch die Mienen der entge genkommenden Passanten sagten viel darüber aus, ob sie lebten oder zu den »Unsrigen« gehörten. Die lebenden Finnen blickten irgendwie ängstlicher und angespann ter, waren nervös und in Eile. Die Toten hingegen wirk ten – von einigen Ausnahmen abgesehen – gelassen und zufrieden. Sie hasteten nicht vorwärts, sondern ließen sich Zeit, die Parkanlagen anzuschauen und dem Ge-sang der Vögel zu lauschen.
Mein neuer Bekannter grüßte einige der Toten, die jedoch nur flüchtig zurückgrüßten; es war deutlich zu merken, dass er nicht besonders beliebt war.
»Das Auge lernt bald, die Lebenden und die Toten zu unterscheiden. Sehen Sie zum Beispiel diesen Mann dort vor dem Gebäude der ehemaligen Schulverwal tung?«
Ich blickte in die angegebene Richtung und entdeckte einen elegant gekleideten alten Herrn mit einem Zylin der, in der Hand hielt er einen Spazierstock mit silber nem Knauf, seine Füße steckten in Lackschuhen und Gamaschen.
»Es ist Cajander, erkennen Sie ihn nicht? Er war seinerzeit der Ministerpräsident Finnlands.«
In der Tat, es war Cajander, der da entlangstolzierte. Er ging an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdi gen, und wir senkten die Stimmen, als er auf gleicher Höhe war. Wie es schien, gehörten auch im jenseitigen Leben die Herren und Narren zu verschiedenen Klassen. Ich machte eine diesbezügliche Bemerkung zu meinem Gefährten, der nur ironisch sagte:
»Nun, Cajander bleibt eben immer Cajander.« Mein Begleiter begann ein wenig über sich selbst zu
erzählen. Ich erfuhr, dass er schon vor Jahren gestorben war.
»Mein elender Leichnam ist längst verwest… Ich war zu Lebzeiten Geschäftsmann, nein, eigentlich war ich eher ein Spekulant, ein Wucherer und Schmuggler, all so was. Ich habe wüst und ausschweifend gelebt, was man mir ja auch ansieht.«
Ich gab zu, dass er einen ziemlich verkommenen Ein druck machte.
»Ich war ein verstockter Mensch und in jeder Hinsicht ein Ausbeuter. Ich habe unrechtmäßig ein großes Ver mögen erworben, habe andere betrogen, habe getrun ken, gerauft, allerlei schlimme Dinge angestellt. Ich war
so veranlagt, war von Kindesbeinen an ein rechter Teu fel. Schließlich bin ich am Alkohol zugrunde gegangen, und das geschah mir ganz recht.«
Ich bemerkte darauf, dass es ihm, obwohl er am Al kohol gestorben war, jetzt durchaus nicht übel ging. Schließlich spazierte er über die Esplanade, nicht an ders als Cajander. Keiner von ihnen beiden hatte Grund zu klagen.
»Sie ahnen gar nicht, wie schwer ich es hier habe. Ständig muss ich mich verstecken. Immer wieder ster ben Leute, die ich betrogen habe und denen ich ums Verrecken – entschuldigen Sie den Ausdruck – nicht begegnen möchte. Es ist alles andere als angenehm, in aller Öffentlichkeit seine ehemaligen Verbrechen erklä ren zu müssen. Ich habe versucht, vor diesen Neuan kömmlingen bis ans Ende der Welt zu fliehen, aber wie Sie inzwischen gemerkt haben, kann sich jeder von uns mit der Geschwindigkeit eines Gedankens von einem Ort zum anderen bewegen, flüchten kann also keiner… Ich müsste mich wahrscheinlich in irgendeiner einsamen Höhle verkriechen, mich in freiwillige Gefangenschaft begeben… So sieht es hier für mich aus.«
Ich fragte ihn, was ihn in den Lesesaal führte. »Zeitungsberichte interessieren mich nicht, haben
mich schon zu Lebzeiten nicht interessiert, abgesehen von den Börsennachrichten. Jetzt lese ich nur die Todesanzeigen, damit ich Vorkehrungen treffen kann, wenn wieder ein alter Bekannter stirbt. Im Frühjahr ist ein rechtschaffener Mann erkrankt, den ich seinerzeit um seinen Bauernhof gebracht habe. Ich fürchte, dass er bald stirbt, und dann kommen für mich schwere Zeiten.«
Der Mann seufzte. Er litt tatsächlich, wie ich jetzt begriff. Also setzte sich die Gerechtigkeit nach dem Tod schließlich doch durch!
Traurig die Hand schwenkend, ging dieser sündige Mann seiner Wege. Zum Abschied sagte er noch:
»Dann also willkommen bei uns… Wenn Sie keine größeren Gewissenbisse haben, kann es hier sogar ganz angenehm sein. Alles hängt davon ab, wie man die Dinge nimmt, wie man sie hier nimmt und wie man sie im früheren Leben auf Erden genommen hat.«
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