Im Kern der Galaxis
sie begonnen hatte, war ihr Vater häufiger nach Hause gekommen. Sie war damals sieben oder acht gewesen. Das eine Mal war er völlig unerwartet eines Nachmittags in ihre Stadtwohnung gekommen und hatte zu ihrer Mutter gesagt: »Ich glaube, sie sollte einmal sehen, wo wir geboren wurden.« Dann hatte er sie in einen Jeep gehoben und war mit ihr über morastige Wege in einen tiefen Wald gefahren. Sie hatte erwartet, Löwen auftauchen zu sehen, Elefanten, Giraffen, Leoparden – das Afrika ihrer Kinderbücher, denn bisher kannte sie nur die moderne Stadt Dakar. Doch der Geburtsort ihrer Eltern erwies sich für sie als noch fremdartiger und rätselvoller. Die Männer dort trugen regenbogenfarbige Gewänder und flache, krempenlose Hüte, und die Frauen Baumwollkleider – viele auch Schleier. Die Kinder versteckten sich zum größten Teil. Die ganze Zeit, die sie dort waren, sah sie nur ein paar. Vater hielt den Jeep an und sagte. »Ich wurde in diesem Dorf geboren und kam erst mit siebzehn nach Dakar.« Er führte sie ins Dorf zu seinen Verwandten. Sein Bruder war ein wahrer Riese mit knorrigen Armen und einem dünnen Bart; seine Schwester wie eine schöne Holzschnitzerei; sein Onkel ein Mann mit breitem, runzligem Gesicht; und sein Vater dünn und groß. Über eine Woche blieben sie bei der Familie. Ihre Tante nahm sie jeden Tag auf die weiten fruchtbaren Felder mit und kehrte erst abends zurück, um das Essen zuzubereiten, das die Männer in einer und die Frauen in einer anderen Hütte zu sich nahmen.
Während sie sich an all das erinnerte, atmete Uhura tief die nektarsüße Wiesenluft ein. Vor ihnen erhob sich der Wald. Er war von anderer Art als der, in den sie sich gebeamt hatten. Sie hatten auch einen etwas anderen Weg genommen. Nach ihrem Besuch bei Vaters Familie hatte sie sich nie mehr vor dem Wald gefürchtet oder ihn, wie die meisten Stadtbewohner, als schrecklichen Ort angesehen, in dem Ungeheuer, Dämonen und ruhelose Geister hausten. In der letzten Nacht ihres Besuchs, als sie noch wachlag, hatte sie laute, verärgerte Stimmen aus der anschließenden Hütte gehört und ihren Vater, der gerufen hatte: »Ihr abergläubischen Toren! Die Galaxis ist das eigentliche Reich des Menschen. Seht ihr denn nicht ein, was die Erde ist? Eine stinkende, verseuchte Müllhalde mit Leichen, die zu ignorant sind zu sterben.« Eine Weile später schrie er: »Allah sei verdammt! Kommt mir doch nicht mit dem Unsinn! Was scheren mich die Lügen eines sogenannten Propheten, der für den Tod Zehntausender von Unschuldigen verantwortlich ist? Vielleicht genügt euch das tatsächlich, aber ich verlange mehr vom Leben – und mehr gesunden Menschenverstand!« Sie hatte nicht gewußt, was er damit meinte.
(Später erfuhr sie, daß ihres Vaters Familie, wie die meisten Senegalesen, gläubige Mohammedaner waren, während ihr Vater jegliche Religionsausübung verabscheute. Selbst in Dakar, wenn alle anderen in der Öffentlichkeit beteten, schritt ihr Vater herausfordernd zwischen den Knienden hindurch.)
Als sie am Morgen aufbrachen, kam nur ihre Tante aus der Hütte, um ihnen Lebewohl zu sagen. Sie hatte sich zu ihrem am Lenkrad sitzenden Bruder gebeugt und ihm etwas zugeflüstert, das nur für ihn gedacht war. In diesem Alter der Beeinflußbarkeit hatte Uhura all das nur als weiteren Beweis der geheimnisvollen Welt der Erwachsenen angesehen. Erst später verstand sie, daß das nächtliche Argument, das sie durch Zufall mitgehört hatte, den Schlußstrich zwischen ihrem Vater und seiner Familie zog, die er einst geliebt hatte.
Hier, auf dieser so ganz anderen Welt, sprach ihr Vater von einem anderen Gott zu ihr. Auch sein Ton war anders, ehrfurchtsvoll, ja fast furchtsam. Doch immer noch von ihren Erinnerungen überwältigt, hörte sie kaum ein Wort davon. Er erzählte ihr, daß Ay-nab am Himmel wohnte, und daß sie sich beeilen mußten, denn wenn Ay-nab Hunger bekam, würde er essen wollen. Und wenn er sie im Freien sah, würde er zweifellos sie als seine Opfer erwählen. Inzwischen hatten sie den Wald erreicht. Im Boden war ein Loch. »Hier!«
Er deutete. »Da geht’s hinunter.«
Sie ließ seine Hand erst los, als sie eine Leiter hinabkletterten. Sie führte zu einer Betonhöhle. Fackeln erhellten sie. Ihr Vater bewegte sich sicheren Schrittes. Der Boden führte schräg abwärts, und die Decke wurde höher, bis sie selbst im Fackelschein nicht mehr zu sehen war. Tiefer, immer tiefer ging es – ins Herz dieser Welt. Aber dieser
Weitere Kostenlose Bücher