Im Königreich der Frommen (German Edition)
Redakteure, die mich in Riad anriefen,
blieb das ein nicht aufzulösendes Mysterium.
Ich aber war ihnen
einen Schritt voraus. Ich wusste es besser. Ich nämlich kannte
Abdulaziz. Wie gesagt habe ich durch ihn verstanden, warum im
Königreich der Frühling ausblieb. Dafür musste ich
ihm dankbar sein.
Nach ägyptischem
Vorbild war für den 11. März auch in der saudischen
Hauptstadt Riad ein „Tag der Wut“ geplant. In den
Zeitungen stand nichts. Im Fernsehen war nichts Genaues zu erfahren.
Die westlichen Medien fingen an, fieberhaft zu spekulieren, ob auch
im Königreich die Massen auf die Straße gehen würden.
Sie hätten nur
Abdulaziz fragen müssen. Der war nicht wütend –
außer auf den Protestaufruf. Im Laufe der Wochen, als für
einige das Königreich vor einem nahen Umsturz zu stehen schien,
referierte Abdulaziz stets die Meinung der Mehrheit der Saudis. Er
kannte alle Gerüchte. Er wusste, was auf der Straße
erzählt wurde. Über die Tendenzen in den Moscheen war er
genau informiert. Aus seinem Mund erfuhr ich, was vielen Saudis
durch den Kopf ging.
Im Januar und
Februar gab es in Ägypten jedes Wochenende riesige
Demonstrationen. Diese Bilder flimmerten unzensiert in die
saudischen Wohnstuben. Fast jeder Haushalt hier empfängt
Satellitenfernsehen. Die meisten verfolgten die Nachrichten über
Al Arabiya, Al Jazeeras Konkurrent, der mit saudischem Geld
finanziert wird. Aber sogar das staatliche saudische Fernsehen
zeigte die Bilder ausgiebig.
Auf einmal tauchte
im Internet eine Facebook-Seite auf, die nach ägyptischem
Vorbild für Freitag, den 11. März, in Riad einen „Tag
der Wut“ ankündigte. Die Seite denunzierte die Armut, in
die die Politik des Regimes viele Saudis angeblich gestürzt
hatte und rief unverhohlen zum Sturz des Königshauses auf. Sie
firmierte unter dem Schlagwort „Revolution Hanin“. Hanin
ist der Name einer Schlacht aus der Zeit des Propheten.
Wegen seiner
Rückenoperation war König Abdullah ja zu diesem Zeitpunkt
schon seit fast drei Monaten in den USA. Offenbar um im Land zu
sein, bevor die Wut ausbrach, verkürzte der greise Herrscher
seinen Genesungsurlaub und kam Ende Februar wieder nach Riad zurück.
Ein paar Dutzend
saudische Intellektuelle wandten sich in zwei offenen Briefen an den
König, in denen sie jeweils weitreichende Reformen forderten.
Nach Tunesien, Ägypten und Libyen schien das Königreich
reif für den Frühling.
Am Tag vor der
Ankunft des Königs fand das Lokalderby zwischen Al Hilal und Al
Schabab statt, zu dem Abdulaziz und ich gemeinsam gingen. Abdulaziz
holte mich von meinem Apartmentblock ab.
Er fuhr einen
großen amerikanischen Wagen aus den Achtzigern, einen Pontiac
oder Dodge. Auf dem Rücksitz lagen Kleider verstreut, ich
konnte eine Windjacke ausmachen, und Müll, Packpapier und
Burger-Schachteln von Fahrten zu mehreren Fastfood-Ketten.
Im Kofferraum, wie
ich später feststellte, sah es ähnlich aus. Dort lagen
seine Lehrbücher für die Universität verstreut und
mehr Kleider und Drive-in-Reste wild durcheinander gewirbelt –
das Stillleben eines unaufgeräumten Jugendzimmers. So sahen
fast alle Autos meiner Studenten aus.
Der Stau vor dem
Fußballstadion begann schon, kurz nachdem wir auf die
Stadtautobahn gefahren waren. Riad hat keine öffentlichen
Verkehrsmittel. Deshalb steht man vor allem am Morgen und Abend
lange im Stau. Obwohl das Stadion nur ein paar Kilometer von meiner
Wohnung entfernt lag, waren wir schon zwei Stunden vor Spielbeginn
losgefahren.
Das gab uns viel
Zeit zum Reden. Schnell kamen wir auf den „Tag der Wut“
zu sprechen. Der war in aller Munde. Zu diesem Zeitpunkt jedoch
wusste noch kaum jemand, wer hinter „Revolution Hanin“
stand. Dennoch schien der Facebook-Aufruf an Fahrt zu gewinnen. Vor
dem geplanten „Tag der Wut“ hat er 33.000 Unterstützer
gefunden.
Bis heute hat sich
niemand offiziell zu dem Aufruf bekannt. Alle Indizien deuten jedoch
auf die saudische Oppositionsgruppe Saad Al Faqihs im Londoner Exil
hin. Sie hat den geplanten „Tag der Wut“ auf ihrem
Satellitensender fleißig beworben. Deshalb gehen die meisten
Beobachter davon aus, dass sie es auch war, die die Facebook-Seite
eingerichtet hat. Öffentlich hat sie sich nicht dazu bekannt.
Al Faqih war
ursprünglich Professor der Medizin an einer Riader Universität.
Das Königreich hat er Anfang der neunziger Jahre verlassen. Er
teilt die wahabisch-konservative Auslegung des Islam der saudischen
Eliten, steht aber Al Quaida nah.
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