Im Königreich der Frommen (German Edition)
dünner Stoffhose unter dem traditionellen langen,
weißen Thoube waren etwas kürzer als normal, wie damals
die des Propheten. Er trug auch einen Vollbart – was in
islamischen Ländern ein so gut wie untrügliches Zeichen
für die Frömmigkeit ist. In Saudi Arabien ist der jedoch
nichts Außergewöhnliches. Den tragen viele.
Bemerkenswert war
Abdulaziz für mich auch nicht, weil er ein altes, sehr großes
amerikanisches Auto fuhr. Auch das tun viele Saudis. Nein,
bemerkenswert war er für mich vor allem, weil er mir half zu
verstehen, warum im Königreich der Frühling ausblieb.
Angefangen an der
Al Imam Universität Englisch zu unterrichten habe ich im
November 2010. Schon nach einer der ersten Stunden traute sich
Abdulaziz mit einigen anderen Studenten, erst scheu, dann
selbstbewusster, zu mir ans Pult. Die Studenten stellten mir die
üblichen Fragen. Woher ich komme? Ob ich Christ sei? Und
natürlich auch, welcher Fußball-Mannschaft ich die Daumen
drückte?
Fußball ist
in Saudi Arabien ein großes Ding. Da Musik, Film und fast
alles andere als unislamisch gilt, was westlichen Jugendlichen Spaß
macht, ist Fußball für viele saudische junge Männer
die schönste Nebensache der Welt.
Fast alle meine
Studenten konnten Tor für Tor die 0:8-Schlappe nacherzählen,
die das saudische Team bei der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und
Südkorea gegen Deutschland einstecken musste. Ich habe das
Spiel nicht gesehen, noch hatte ich vor meiner Zeit im Königreich
davon gehört. Für meine Studenten jedoch hat das Spiel
einen Symbolcharakter für die Unzulänglichkeit des
saudischen Fußballs angenommen. Für sie hat es
aufgezeigt, was beim saudischen Nationalteam alles verkehrt lief:
die teuren Trainer, die hochbezahlten Spieler und den mangelnden
Einsatzwillen der Mannschaft.
Weil meine
Studenten andauernd darüber reden wollten, nahm der Fußball
in Saudi Arabien für mich eine neue Bedeutung an. Im Königreich
ist der Sport auch eine der seltenen Gelegenheiten, die Moschee
ausgenommen, bei der Leute zu einer Gruppe zusammen kommen.
Verschiedene Teams
hatten verschiedene Anhänger. Weil einige hochrangige Prinzen
Anhänger von Al Hilal, dem saudischen Bayern München,
waren, galt der Club und seine Anhänger als königstreu,
die des Lokalrivalen Al Schabab dagegen als etwas weniger loyal.
Im Fußball
spiegeln sich in Saudi Arabien auch regionale Rivalitäten wider
– wie zwischen den besten Mannschaften aus Dschidda, Ittihad
FC und Al Ahli SC und den Teams der Hauptstadt.
Und wenn man, wie
ich als Lehrer, mit Saudis privaten Kontakt haben wollte, war die
beste Gelegenheit der Fußball. Deshalb wollte ich mit meinen
Studenten zu einem Spiel gehen. Viele andere Gelegenheiten gab es
nicht.
Abdulaziz bot an,
mich zu einem Spiel mitzunehmen. Er schlug das Lokalderby der beiden
Riader Mannschaften Al Hilal und Al Schabab vor. Das Spiel fand erst
nach dem Ende des Semesters statt. Bei dem Spiel zuvor soll es
Gerüchten zufolge zu Auseinandersetzungen zwischen den
rivalisierenden Fanblöcken gekommen sein. Ich sagte zu und war
gespannt, was mich bei dem Spiel erwartete.
Dann begann der
„Arabische Frühling“. Am 18. Dezember übergoss
sich ein junger Obst- und Gemüsehändler im tunesischen
Sidi Bouzid mit Benzin und löste so eine Protestwelle aus, die
den Nahen Osten radikal veränderte. Zuerst gab es
Demonstrationen nur in Tunesien, dann griffen sie nach Algerien über
und bald auch nach Jemen, Jordanien, Bahrain und Ägypten.
Innerhalb weniger Wochen veränderte sich das Gesicht einer
ganzen Region.
Am 14. Januar floh
der tunesische Präsident Zin El-Abedine Ben Ali nach Saudi
Arabien, wo er noch heute im Exil lebt. Am 11. Februar trat nach
mehr als 30-jähriger Herrschaft der ägyptische Präsident
Hosni Mubarak zurück. Viele Beobachter fingen an zu
spekulieren, welches Regime im mittleren Osten als nächstes
fallen würde. Sofort geriet die saudische Königsfamilie
ins Blickfeld. Wie die gestürzten Despoten-Clans in Tunesien
und Ägypten war auch sie unermesslich reich, galt als
fürchterlich korrupt und durch Wahlen wurde sie auch noch nie
bestätigt.
Wie sich im Laufe
des Frühjahres 2011 zeigte, wankten die Al Saud jedoch nicht.
Von einem westlichen Blickpunkt aus war das nur sehr schwer zu
verstehen. Warum traf sie kein populärer Protest? Warum war
gerade in Saudi Arabien die Herrscherfamilie wohl gelitten? Die
Umstände sprachen doch in jeder Hinsicht gegen sie. Warum nur?
Wie ging das zu? Für die
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