Im Königreich der Frommen (German Edition)
beteten viele Zuschauer. Um das Stadion waren lange
Reihen von Teppichen ausgelegt. Ich wartete erst am Getränkestand,
Abdulaziz ging sich waschen. Als ich dann ein bisschen
umherschlenderte, sah ich ihn in der ersten Reihe, vor ein paar
Dutzend Betenden stehen.
Wenn mehrere
Gläubige zusammen beten, stellt sich einer vorne hin, um die
Bewegungen zu koordinieren, damit sich alle synchron verbeugen,
hinknien, die Stirn auf den Boden drücken.
Hoch aufgerichtet,
wie selbstverständlich stand Abdulaziz vor den Reihen der
Betenden und gab den Rhythmus vor. Sein Gesicht war unbewegt, aber
es schien eine innere Ruhe auszustrahlen, die ich sonst nicht von
ihm kannte.
Nach dem Spiel
fuhren wir gleich nach Hause, um wenn möglich vor dem
erwarteten Stau schon außer Reichweite des Stadions zu sein.
Abdulaziz fuhr durch kleine Straßen, die manchmal so eng wie
Feldwege waren, vorbei an abgelegenen Häusern und Grundstücken,
die aussahen wie Kleingartenanlagen, und kreuzte immer wieder einmal
die Stadtautobahn an einer Unterführung. Er beschleunigte immer
wieder schnell. An der nächsten kleinen Wegbiegung bremste er
wieder ab. Manche Kreuzungen waren so eng, dass er mit seinem großen
Auto fast nicht um die Kurve kam. Zwar standen wir nicht im Stau,
fuhren aber doch eine gute halbe Stunde, bis wir kurz vor meinem
Apartment-Gebäude auf die Stadtautobahn fuhren.
Schon an der
Universität hatte mir Abdulaziz erzählt, dass er Medizin
in Dschidda studiert hat, dann aber abbrach und wieder zurück
nach Riad kam.
Wie vielen
westlichen Besuchern gefiel mir Dschidda viel besser als Riad.
Dschidda hat Flair. Die Stadt ist eine Metropole mit Geschichte, sie
hat den Hafen, das rote Meer und eine Altstadt mit schönen
Häusern und engen Gassen. Dschiddas Nähe zu Ägypten
und die vielen Einwanderer aus den Anrainerstaaten des Roten Meeres
lassen die Stadt weltmännisch erscheinen. Riad dagegen ist in
etwas mehr als fünfzig Jahren von einem Wüstenstädtchen
zu einem Moloch mit riesigen Autobahnen, wuchernden Vorstädten
und Betonwürfeln mit Glitzerfassaden gewachsen. Außerdem
ist der strenge wahabische Geist der zentralen Hochebene um Riad im
kosmopolitischen Dschidda nicht so stark zu spüren. Mit einem
Wort: Ich verstand nicht, wie irgendjemand aus Dschidda zurück
nach Riad kommen konnte.
Deshalb fragte ich
Abdulaziz auf der Heimfahrt vom Stadion nach seiner Studienzeit in
Dschidda. Er sagte, er habe dort ein ganzes Jahr vergeudet, weil er
sein Studium in Riad noch einmal ganz von vorne beginnen musste.
Warum hat er denn
nicht in Dschidda zu Ende studiert?
„ In Dschidda
kannst du alles kriegen, verstehst du?“, sagte er aufgebracht.
Was meinst du?,
fragte ich. Abdulaziz rollte mit den Augen und sagte barsch: „Ich
will nicht darüber reden.“ So als sei das eine besonders
schmerzhafte Erfahrung gewesen und so als wüsste doch jeder,
was man unter „alles“ verstehen musste.
Meinte er Drogen?
Das andere Geschlecht, Darth Vader entblößt? Hatte er der
Versuchung nicht widerstehen können, hatte er ein Semester auf
der dunklen Seite verbracht und hatte deshalb nach Riad zurückkehren
müssen? Das musste ich mir nun selbst ausmalen.
Später
erzählte mir Abdulaziz, er sei inzwischen mit einer seiner
Cousinen verlobt und werde sie bald heiraten. Ob sie die Tochter
seiner Tante oder seines Onkels war, weiß ich nicht. Die
Heirat der ersten Cousine ist in Saudi Arabien immer noch der
Normalfall. Damit auch wirklich alles in der Familie bleibt.
Abdulaziz war also wieder auf der sonnigen Seite angekommen, aber
konnte er auch dort bleiben?
Schon während
unserer Fahrt zum Stadion, als ich ihn gefragt hatte, ob denn bei
dem Spiel auch Zuschauerinnen zugelassen seien, hatte Abdulaziz laut
loslachen müssen, so absurd erschien ihm die Vorstellung. Dass
die Frauen in den Darth Vader-Kostümen nicht einfach neben den
Männern im Stadion sitzen konnten, dass sie dann ihre eigene
Tribüne bekämen, durch eine Mauer von den Männern
getrennt – das war mir schon klar, aber dass sie überhaupt
nicht zugelassen waren, erstaunte mich damals doch. Ich war ja noch
neu im Königreich. Ein paar Monate später wäre mir
dieser Denkfehler nicht mehr passiert.
„ Wo denkst du
hin!“, hatte Abdulaziz gesagt. Wahrscheinlich tippte er sich
nur nicht an die Stirn, weil sich das gegenüber seinem
Englisch-Lehrer nicht gehörte. „Was glaubst du, was da
los wäre, wenn Frauen im Stadion wären.“
Was denn?
In Ordnung. Ich war
wirklich
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