Im Krebsgang
vermißte
er, nunmehr rechthaberisch, in der Rede des für Mecklenburg
zuständigen Gauleiters Hildebrandt einen Hinweis auf die, wie es
hieß, »nationalbolschewistischen Einflüsse«
Gregor Strassers auf den Blutzeugen. Schließlich hätte man
von dem ehemaligen Landarbeiter, der die adligen
Großgrundbesitzer seit Kindertagen haßte und sich deshalb
nach des Führers Machtergreifung eine rigorose Parzellierung der
Rittergüter erhofft hatte, eine wenn auch nur angedeutete
Ehrenrettung des ermordeten Strasser erwarten dürfen. So etwa las
sich das Gequengel. Lauter Besserwissereien, die im Chatroom zum Streit
führten.
Unbekümmert um dessen Ausgang, setzte sich, zurück auf der
Website, der von Bildern belebte Trauerzug in Bewegung. Bei
wechselhaftem Wetter ging es von der Festhalle durch die
Gutenbergstraße, Wismarsche Straße über den Totendamm
und durch die Wallstraße zum Krematorium. Vier Kilometer lang
rollte zwischen beidseitigem Ehrenspalier der Sarg, aufgebahrt auf
einer Geschützlafette, bis man ihn, unter Trommelwirbel, zum Zweck
der Einäscherung abgeladen und nach der Einsegnung durch einen
Geistlichen in den Feuerschacht hinabgelassen hatte. Auf Kommando
wurden zu beiden Seiten des
schwindenden Sarges die Fahnen gesenkt. Aufmarschierte Kolonnen
stimmten das Lied vom toten Kameraden an und entboten mit rechts
erhobenen Händen den allerletzten Gruß.
Zudem feuerte die Wehrmachtsabteilung nochmals Salven zu Ehren eines
Frontsoldaten, der, wie bereits ans Licht gebracht, nie den Grabenkrieg
erlebt hatte und dem Trommelfeuer oder »Stahlgewitter«, wie
es bei Jünger heißt, erspart worden sind. Ach wäre er
doch vor Verdun dabeigewesen und rechtzeitig in einem Granattrichter
krepiert!
Da ich in der Stadt zwischen den sieben Seen aufgewachsen bin,
weiß ich, wo später am Südufer des Schweriner Sees die
Urne im Fundament eingemauert wurde. Drauf stand ein vier Meter hoher
Granit, den eine keilförmig gemeißelte Inschrift beredt
machte. Mit den Grabsteinen anderer Alter Kämpfer bildete er den
Ehrenhain um die eigens gebaute Ehrenhalle. Ich erinnere mich nicht,
aber Mutter weiß genau, wann während der ersten
Nachkriegsjahre, nicht nur auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht,
alles abgeräumt wurde, was die Bürger der Stadt an den
Blutzeugen hätte erinnern können. Für mein mit mir
vernetztes Gegenüber jedoch bestand Bedarf, wiederum und an
gleicher Stelle einen Gedenkstein zu errichten; nannte er doch Schwerin
unentwegt die »Wilhelm-Gustloff-Stadt«.
Alles vergangen, verweht! Wer weiß schon, wie
dazumal der Leiter der Deutschen Arbeitsfront geheißen hat? Heute
werden neben Hitler als einst allmächtige Größen
Goebbels, Göring, Heß genannt. Falls in einem Fernsehquiz
nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils
richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet
werden; und schon gäbe es für den alerten Quizmaster
Anlaß, den Schwund von soundsoviel tausend Mark mit kleinem
Lächeln zu quittieren.
Doch wer, außer meinem im Netz turnenden
Webmaster, kennt heutzutage Robert Ley? Dabei ist er es gewesen, der
gleich nach der Machtergreifung alle Gewerkschaften aufgelöst,
deren Kassen geleert, deren Häuser mit Räumkommandos besetzt
und deren Mitglieder - Millionen an der Zahl - in der Deutschen
Arbeitsfront zwangsorganisiert hat. Ihm, dem Mondgesicht mit
Stirnlocke, fiel es ein, allen Staatsbeamten, danach allen Lehrern und
Schülern, schließlich den Arbeitern aller Betriebe die
erhobene Hand und den Ruf »Heil Hitler« als Tagesgruß
zu befehlen. Und ihm ist die Idee gekommen, auch den Urlaub der
Arbeiter und Angestellten zu organisieren, ihnen unter dem Motto
»Kraft durch Freude« billige Reisen in die bayrischen Alpen
und ins Erzgebirge, Urlaub an der Ostseeküste und am Wattenmeer,
nicht zuletzt kurze und längere Seereisen zu ermöglichen.
Ein Mann mit Tatkraft, denn all das geschah rastlos und ungebremst,
während gleichzeitig anderes geschah und sich Schub um Schub die
Konzentrationslager füllten. Anfang vierunddreißig charterte
Ley für die von ihm geplante KdF-Flotte das Motorpassagierschiff
Monte Olivia und den Viertausendtonnendampfer Dresden. Zusammen
faßten beide Schiffe knapp dreitausend Passagiere. Doch schon
während der achten KdF-Seeurlaubsreise, auf der wiederum die
Schönheit norwegischer Fjorde zur Ansicht gebracht werden sollte,
riß im Karmsund ein unter Wasser lagerndes Granitgestein die
Schiffswand der Dresden dreißig
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