Im Krebsgang
nur besuchsweise, also selten und
unregelmäßig. Ein, wie ich fand, zu schnell gewachsener
Junge mit Brille, der sich, nach Meinung seiner Mutter, schulisch gut
entwickelte, als hochbegabt und überaus sensibel galt. Als dann
aber in Berlin die Mauer fiel und bei Mustin kurz hinter Ratzeburg, dem
Nachbarstädtchen von Mölln, die Grenze offenstand, soll Konny
sofort meine Ehemalige bedrängt haben, mit ihm nach Schwerin zu
fahren - was eine gute Autostunde bedeutete -, um dort seine Oma Tulla
zu besuchen.
So hat er sie genannt. Nehme an, auf ihren Wunsch. Es ist nicht bei
einem Besuch geblieben, leider, wie ich heute sage. Die beiden
verstanden sich auf Anhieb. Schon damals als Zehnjähriger redete
Konny ziemlich altklug daher. Bin sicher, daß Mutter ihn mit
ihren Geschichten, die ja nicht nur auf dem Tischlereihof in Langfuhrs
Eisenstraße spielten, vollgedröhnt hat. Alles, sogar ihre
Abenteuer als Straßenbahnschaffnerin im letzten Kriegsjahr, hat
sie ausgepackt. Wie ein Schwamm muß der Junge ihr Gerede
aufgesogen haben. Natürlich hat sie ihn auch mit der Story vom
ewigsinkenden Schiff abgefüttert. Ab dann war Konny oder
»Konradchen«, wie Mutter sagte, ihre große Hoffnung.
Um diese Zeit kam sie oft nach Berlin. Mittlerweile in Rente, gab sie
sich reiselustig in ihrem Trabi. Doch war Mutter nur unterwegs, um ihre
Freundin Jenny zu besuchen; ich blieb Nebensache. War das ein
Wiedersehen! Ob in Tante Jennys Puppenstube oder in meinem Kreuzberger
Altbauloch, sie sprach nur über Konradchen und ihr
Altersglück. Wie gut, daß sie sich nun mehr um ihn
kümmern könne, seitdem man das volkseigene
GroßtischlereiKombinat abgewickelt habe, mit ihrer Hilfe
übrigens. Sie helfe ja gerne, damit es vorangehe. Ihr Rat sei
schon wieder gefragt. Und was ihren Enkelsohn betreffe, stecke sie
voller Pläne.
Tante Jenny hatte für soviel überschüssige Energie nur
ihr vereistes Lächeln übrig. Ich bekam zu hören:
»Aus mainem Konradchen wird mal bestimmt was Großes. Nich
son Versager wie du...«
»Stimmt«, habe ich gesagt, »aus mir ist nix Tolles
geworden, wird auch nix mehr. Doch wie du siehst, Mutter, entwickle ich
mich - wenn man das Entwicklung nennen darf - zum Kettenraucher.«
Wie dieser Jude Frankfurter, füge ich heute hinzu, der gleich mir
ein Stäbchen am nächsten angezündet hat und über
den ich jetzt schreiben muß, weil die Schüsse ihr Ziel
gefunden haben, weil der Bau des in Hamburg auf Kiel gelegten Schiffes
Fortschritte machte, weil im Schwarzen Meer ein Navigationsoffizier
Marinesko auf einem in Küstennähe tauglichen UBoot Dienst
schob und weil am 9. Dezember sechsunddreißig vor dem Gericht des
Schweizer Kantons Graubünden der Prozeß gegen den aus
Jugoslawien stammenden Mörder des Reichsdeutschen Wilhelm Gustloff
begann.
In Chur standen drei Bewacher in Zivil vor dem
Tisch der Richter und der Bank des Angeklagten, der eingeengt zwischen
zwei Polizisten saß. Sie hatten auf Anordnung der Kantonspolizei
ständig das Publikum sowie die in- und ausländischen
Journalisten im Blick: man befürchtete einen Anschlag, von welcher
Seite auch immer.
Wegen des Andrangs aus dem Reich war es notwendig geworden, die
Verhandlung vom Kantonsgericht in den Sitzungssaal des Kleinen Rates
von Graubünden zu verlegen.
Ein betagter Herr mit weißem Spitzbart, der
Anwalt Eugen Curti, hatte die Verteidigung übernommen. Als
Nebenkläger wurde die Witwe des Ermordeten von dem bekannten
Professor Friedrich Grimm vertreten, der bald nach Kriegsende mit
seinem Standardwerk »Politische Justiz - die Krankheit unserer
Zeit« Aufsehen erregt hat, weshalb ich nicht
erstaunt war, im Internet eine Neuauflage des
Buches, vertrieben von dem deutschkanadischen Rechtsextremisten Ernst
Zündel, zu finden, doch soll diese Kampfschrift inzwischen
vergriffen sein.
Ziemlich sicher bin ich dennoch, daß sich
mein Schweriner Webmaster rechtzeitig ein Exemplar hat kommen lassen,
denn seine Internet-Seiten waren gespickt mit Grimm-Zitaten und
polemischen Antworten auf das - zugegeben - langatmige Plädoyer
des Verteidigers Curti. Es war, als sollte der Prozeß noch einmal
ablaufen, diesmal in einem virtuell überfüllten Welttheater.
Später haben meine Recherchen ergeben,
daß sich mein Einzelkämpfer mit Hilfe des
»Völkischen Beobachter« schlau gemacht hatte. So ist
die eher beiläufige Meldung, Frau Hedwig Gustloff sei, als sie am
zweiten Verhandlungstag den Gerichtssaal in Trauerschwarz betrat, von
den anwesenden
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