Im Kreis des Wolfs
waren die Leideckers nach Idaho gezogen, und seither hatte Luke seine Joan für sich allein. Während der Schulferien kam sie nicht zu ihm, sondern er fuhr jeden Mittwochmorgen zu ihr in diese Privatklinik.
Sie hatten bereits einige Male mit Videoaufnahmen gearbeitet, meist, um eine neue Methode einzuüben oder ihm zu zeigen, wie sein Körper sich verhielt, wenn er ins Stottern geriet. Heute hatte sie ihn aufgenommen, weil er bemerkt hatte, dass sich in letzter Zeit nicht nur sein Mund verspannte, sondern dass er darüber hinaus zu blinzeln undden Kopf nach links zu verdrehen begann. Joan sagte, das sei völlig normal. Man nenne dies die »sekundären Symptome«. Sie wollten sich anschauen, was da mit ihm passierte und ob sich etwas dagegen unternehmen ließ.
Als sie zum ersten Mal mit Video arbeiteten, fürchtete sie, dass es ihn zu sehr aufregen könnte, sich selbst auf dem Bildschirm zu sehen. Aber das war nicht der Fall gewesen. Er fand einfach nur, dass er ein bisschen blöd aussah, und es kam ihm fast so vor, als würde er einem Fremden zuschauen. Seine Stimme klang seltsam, vor allem, wenn er in die Nähe eines gefährlichen Worts geriet und dieses dümmliche Lächeln aufsetzte. Joan sagte immer, er sehe unglaublich attraktiv aus, aber das war natürlich nur Therapeutengeschwafel. In seinen eigenen Augen wirkte er wie ein verschreckter Vogel, der jeden Augenblick die Flügel ausbreiten und davonfliegen würde.
Video-Luke hielt sich gar nicht schlecht. Er glitt über die Worte hinweg, über die er sonst stolperte, M-Worte wie Musik und P-Worte wie Paris. Selbst Hohner Marine Band schaffte er problemlos, aber das auch nur, weil diese Worte leicht waren, verglichen mit dem, was noch kommen sollte.
Er hatte es bereits geahnt, und als es näher kam, wusste er schon, dass er es nicht schaffen würde. Er hörte, wie sich die Stimme von Video-Luke wappnete, bis sie wie der Motor eines Wagens klang, der sich einen Bergpass hinaufmühte. Und dann, als er zum M von Moulin Rouge kam, holte er tief Luft, sein Mund verkrampfte sich, stülpte sich vor, und er begann zu blinzeln. Er war mit Karacho gegen die Ziegelwand geknallt, und fünf, sechs, sieben Sekunden hing er dort fest, das Gesicht an die Steine gepresst.
»Ich sehe wie ein F-F-Fisch aus.«
»Nein, tust du nicht. Na schön, halten wir hier an.«
Joan drückte auf den Pausenknopf, ließ den blinzelndenVideo-Luke mit vorgestülptem Mund erstarren und bestätigte so, was Luke gerade gesagt hatte.
»Ein Fisch, wie ich gesagt habe.«
»Du hast das Wort kommen sehen.«
»Ja.«
»Liegt es vielleicht daran, dass es ein französisches Wort ist?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, nicht. Ist eigentlich k-k-kein Problem. Wenn ich doch b-b-bloß nicht so b-b-blinzeln würde.«
Sie spulte das Band zurück, ließ es noch einmal ablaufen und zeigte ihm, ab wann er begann, sich zu verspannen. Man konnte sehen, wie sich die Muskeln in Gesicht und Nacken zusammenzogen. Sie ließ ihn den Satz mehrere Male wiederholen, wobei er aufmerksam darauf achten sollte, was genau seine Zunge und sein Kiefer taten. Dann musste er den ganzen Abschnitt noch einmal lesen, und obwohl er einige Male stotterte und sich wiederholte, blinzelte er kein einziges Mal und verdrehte auch nicht den Kopf.
»Siehst du?«, sagte Joan. »Du hattest recht. Eigentlich kein Problem.«
Er zuckte die Achseln und lächelte. Sie wussten beide, dass der Erfolg in der Therapie eine Sache und der im normalen Leben eine ganz andere war. Manchmal redete er eine ganze Stunde mit Joan und kam nicht einmal ins Stottern. Doch dann fuhr er nach Hause, sein Vater stellte ihm eine einfache Frage, und er war völlig blockiert, selbst wenn die Antwort nur ja oder nein lautete.
Mit Joan zu reden zählte nicht. Genauso wenig wie es zählte, wenn er mit Tieren sprach. Mit Moon Eye oder mit den Hunden konnte er den ganzen Tag reden, als hätte er nie in seinem Leben gestottert. Aber das zählte auch nicht. Denn das war nicht die wirkliche Welt, in der die Worteeine schreckliche Bedeutung hatten. Außer Joan gab es nur einen Menschen auf der Welt, mit dem er problemlos reden konnte (na ja, zwei Menschen, wenn er Buck junior mitzählte, der noch kein Wort verstand), und das war seine Mutter.
Sie war die Einzige, die nicht den Blick abwandte, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Und wenn er ins Stottern kam, wartete sie geduldig. So war es schon immer gewesen.
Er konnte sich erinnern, wie sie ihn am Abendbrottisch packte und in
Weitere Kostenlose Bücher