Im Kreis des Wolfs
erwischen, schoss ein erwachsenes Tier nach dem anderen ab, sobald es von der nächtlichen Jagd zurückkam; und erst wenn man sicher war, dass man alle erledigt hatte, ging man hin und gab den Welpen mit einer Axt oder dem Gewehrkolben den Rest.
Lovelace heiratete schließlich eine Frau, die viel jünger war als er, doch sie starb im Jahr darauf bei der Geburt ihres einzigen Kindes. Der Junge erhielt den Namen Joseph Joshua, wurde aber von seinem Vater schon bald nur noch J. J. gerufen.
Etwa zu der Zeit, als der Junge geboren wurde, hatte Lovelace auch den letzten Wölfen von Hope ein Ende gemacht. Die Rancher behielten ihn zwar noch auf ihrer Gehaltsliste, um gelegentliche Einzelgänger und andere, kleinere Raubtiere zu erlegen, doch inzwischen hatte er einen so guten Ruf erworben, dass er Angebote aus all jenen Gegenden bekam, in denen es noch Wölfe gab. Und kaum konnte J.J. laufen, nahm Joshua ihn mit auf seine Jagdausflüge und unterwies ihn in der Kunst des Tötens.
Der Junge war ein eifriger Schüler und begann bald, die Techniken seines Vaters noch zu verfeinern. Den Widerwillen gegen Gift hatte er geerbt. Die nächsten siebzehn Jahre verbrachten die beiden jeweils zur Hälfte in Hope, während der übrigen Monate aber bereisten sie den Kontinent, von Alaska bis Minnesota, von Alberta bis Mexiko, und waren überall dort zu finden, wo es Wölfe gab, die sonst niemand fangen konnte.
Ab Mitte der fünfziger Jahre, als das Reisen für seinen Vater zu beschwerlich wurde, arbeitete J.J. allein, und seit die Wölfe unter dem Schutz des Gesetzes standen, ging er mit wachsender Umsicht zu Werke.
Die Gegend um das alte Lager der Wolfsjäger war so verseucht, dass sie viele Jahre lang gesperrt blieb. Der Schädelwegverfiel, überwuchert von einem Gestrüpp aus Büschen, deren Beeren die Kinder generationenlang nicht pflücken durften.
Doch lange nachdem das Heulen des letzten Wolfs im Tal verklungen war, kamen Bulldozer und ebneten das Land für einen Park ein. Während der Bauarbeiten starben merkwürdigerweise einige Hunde an den Knochen, die sie mit nach Hause geschleppt hatten. Doch nur die alten Leute in Hope wussten, warum.
In indianischen Sagen heißt es, dass die Geister hingeschlachteter Wölfe weiterleben. Sie versammeln sich auf einem fernen Berg, dort, wo der weiße Mann sie nicht finden kann. Und sie warten auf den Tag, an dem sie wieder unbehelligt durch das Land streifen können.
9
Luke Calder lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete, während die Sprachtherapeutin das Videoband zurückspulte. Sie hatte ihn aufgenommen, während er eine ganze Seite aus
This Boy’s Life
las, und er war dabei nur einmal ins Stottern geraten, ziemlich stark zwar, aber er war dennoch stolz auf sich.
Er schaute aus dem Fenster auf einen Viehtransporter, der ratternd vor einer Ampel hielt, und sah eine Reihe rosiger, feuchter Nasen, die aus den Seitenschlitzen lugten. Es war erst kurz nach neun, aber die Straßen von Helena flimmerten bereits vor Hitze. Auf dem Weg in die Stadt hatte der Wetterbericht Regen angekündigt, doch in diesem Sommer war bisher kaum ein Tropfen gefallen. Die Ampel schaltete auf Grün, und der Viehtransporter ratterte davon.
»Okay, Kleiner, dann wollen wir uns das mal anschauen.«
Joan Wilson therapierte ihn seit fast zwei Jahren. Luke fühlte sich bei ihr wohl. Sie war eine große, freundliche Frau, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als seine Mutter, mit rosigen Wangen, in denen die Augen verschwanden, wenn sie lächelte. Außerdem schien sie einen endlosen Vorrat an exotischen Ohrringen zu besitzen, was Luke ziemlich erstaunte, da sie sich ansonsten wie eine Sonntagsschullehrerin kleidete.
Joan arbeitete für eine Kooperative, die einige der entlegeneren Schulen dieser Gegend betreute. Luke hatte sich stets auf ihre wöchentlichen Besuche gefreut. Anfangs wurde er gemeinsam mit Kevin Leidecker unterrichtet, einem kleineren Jungen, worüber Luke keineswegs besonders glücklich war, da der Junge längst nicht so schlimm stotterte wie er selbst.
Er mochte Leidecker ganz gern, bis er ihn einmal im Umkleideraum belauschte, wie er »Cookie« Calder nachahmte, der bei »Sein oder Nichtsein« heftig ins Stottern geriet. Er war ziemlich gut, die anderen Jungs machten sich vor Lachen fast in die Hose. Lukes Spitzname (manche zogen »Cooks« vor, andere wiederum »Cuckoo«) kam von dem grässlichen Stottern, das ihn oft überfiel, wenn er seinen Namen sagen musste.
Vor einem Jahr
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