Im Kreis des Wolfs
Mann an sein Fenster klopfteund sagte, das Auto stünde ihm im Weg und ob es nicht ein Stückchen vorgefahren werden könne.
Luke rannte in die Klinik, um seinem Vater Bescheid zu sagen, und vergaß, an Lornas Tür zu klopfen. Wie ein Idiot war er hereingestürmt, und in dem Bruchteil der Sekunde, den sie brauchten, um sich abrupt voneinander zu lösen, sah er die beiden gegen den Aktenschrank gepresst und die Hand seines Vaters unter ihrem hochgeschobenen Pullover, wie sie ihre Brust umfasste.
Lorna bedeckte sich rasch wieder und tat, als suche sie etwas im Aktenschrank, während Luke einfach nur dastand und rot wurde. Er versuchte zu sagen, dass da draußen ein Mann sei, der nicht aus seiner Parklücke komme, doch schon beim ersten M blockierte er und fühlte sich wie ein gestrandeter Wal, bis sein Vater zu ihm ging und leise sagte: »Ist schon in Ordnung, Junge. Sag ihm, ich komme gleich.«
Sie fuhren schweigend nach Hause und erwähnten das Vorgefallene mit keinem Wort. An jenem Tag hatte er Lorna Drewitt zum letzten Mal gesehen, doch hörte er später, dass sie nach Billings gezogen sei, eine Stadt, in der sein Vater häufig geschäftlich zu tun hatte.
Luke war nicht klar, ob Joan über diesen speziellen Vorfall oder über ähnliche Vorkommnisse Bescheid wusste. Vielleicht war ihr nur bekannt, dass sein Vater ein berüchtigter Frauenheld war, was sich, wie Luke später in der Schule erfuhr, schon überall herumgesprochen hatte. Jedenfalls gab sich Joan, aus welchem Grund auch immer, nur wenig Mühe, ihre Gefühle zu verbergen; und als Luke zum ersten Mal erwähnte, dass er im Herbst nicht gleich aufs College gehen wolle, hatte sie sich ziemlich aufgeregt und gesagt, je eher er von zu Hause fortkomme, desto besser für ihn und sein Stottern.
Sie verabschiedeten sich in der Eingangshalle der Klinik.Luke setzte seinen Hut auf, trat ins gleißende Sonnenlicht und lief über den Parkplatz.
Während er aus Helena hinausfuhr, ging ihm durch den Kopf, was Joan gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Es wäre bestimmt besser für ihn, wenn er fortginge. Schließlich wusste er ganz genau, weshalb sein Vater wollte, dass er vor dem College noch ein Jahr auf der Ranch arbeitete.
Luke hatte sich in den Kopf gesetzt, Biologie an der Universität von Montana in Missoula zu studieren, einem Ort, an dem es in den Augen seines Vaters vor Liberalen und fanatischen Tierschützern nur so wimmelte. Er wünschte sich, dass er Kathys Beispiel folgte und Agrarwirtschaft in Bozeman studierte, einer Universität, die den Ranchern freundlich gesinnt war. Er hoffte, das sein Jahr praktischer Arbeit auf der Ranch seinen Sohn schon noch zur Vernunft bringen würde.
Luke hatte gegen dieses Jahr nichts einzuwenden, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.
So konnte er nämlich weiterhin die Wölfe beobachten und sie, falls notwendig – was er befürchtete –, vielleicht auch beschützen.
Als er zur Ranch zurückkam, war niemand zu sehen. Das Auto seiner Mutter war fort. Bestimmt war sie zu Kathy oder in die Stadt gefahren. Luke sah allerdings einen Wagen auf dem Platz, den er kannte. Er gehörte dem hiesigen Tierarzt Nat Thomas. Luke parkte den alten Jeep daneben und stieg aus. Zwei australische Viehhunde stürzten auf ihn zu und sprangen aufgeregt um ihn herum, als er den staubigen Hang zum Haus hinaufging.
Er rief hallo, als er durch die Fliegengittertür in die Küche trat, erhielt aber keine Antwort. Seine Mutter hatte das Essen auf dem Herd stehen. Es roch gut. Bald würden sich allezum Lunch einfinden. Neuerdings konnte Luke nur noch mittwochs, nach seiner Stunde bei Joan, mit den anderen essen, da sein Vater ihn angewiesen hatte, die Herde auf die Bergwiesen hinaufzutreiben. So nahm er meist nur Sandwiches mit und aß sie allein. Luke war das ganz recht.
Er ging auf sein Zimmer, um sich seine Arbeitssachen anzuziehen, damit er gleich nach dem Essen losreiten konnte.
Sein Zimmer befand sich oben in der Südwestecke des Hauses. Aus dem Fenster nach Westen konnte er das Talende sehen, wie es in den Wald und dann in die oft wolkenverhangenen Berge überging.
Eigentlich waren es zwei Zimmer, aus denen man eines gemacht hatte. Die andere Hälfte, von einem Türbogen unterteilt, hatte seinem Bruder gehört. Und obwohl Luke sich in den Jahren seit dem Unfall ziemlich ausgebreitet hatte, war Henry doch noch präsent.
Im Schrank hingen ein paar seiner Kleidungsstücke, einige Regale waren voll mit seinen Schulfotos, den
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