Im Kreis des Wolfs
Sicherheit brachte, wenn sein Vater darauf beharrte, dass er mit vernünftigen Worten um etwas bat. Luke saß dann da, lief rot an, während die Mauer vor dem Wort, das er zu sagen versuchte, immer höher wurde, bis er schließlich zu weinen begann, seine Mutter aufsprang und ihn in einen anderen Teil des Hauses brachte, wo sie beide im Dunkeln saßen und auf seinen schimpfenden und fluchenden Vater lauschten, bis er die Tür zuknallte, den Motor seines Wagens anließ und in der Nacht verschwand.
Das war die wirkliche Welt. In ihr konnten kleine Worte wie Milch, Butter oder Brot einen alles verwüstenden Orkan auslösen.
Nach der Arbeit mit dem Videoband brachte ihn Joan dazu, freiwillig zu stottern, es absichtlich zu machen, damit er sich daran gewöhnte, Kontrolle über seine Sprache zu gewinnen. Sie sagte, das würde vielleicht gegen das Blinzeln helfen, und er könnte es auch allein probieren, zusammen mit den anderen Übungen. In der Übung, die er zuletzt ausgeführt hatte, sollte er sinnlose Geräusche von sich geben, sollte seine Stimme wie einen Fluss fließen lassen, aus dem die Worte herausströmten.
Danach probten sie noch ein Rollenspiel, was den beiden mehr Spaß machte als alles andere und gewöhnlich in allgemeinem Gelächter endete. Joan war eine verhinderte Schauspielerinund stets ganz bei der Sache. Letzte Woche hatte sie die schlechtgelaunte Besitzerin eines Süßigkeitenstands bei einem Fußballspiel gemimt, und Luke musste mit ihr über das Spiel schwatzen und Popcorn sowie zweimal Cola bestellen. Mit irgendeiner unerwarteten Bemerkung brachte er sie fast immer aus dem Konzept. So hatte er sie zum Beispiel einmal gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Heute spielte sie eine wütende Verkehrspolizistin, die ihn gerade angehalten hatte, weil er zu schnell gefahren war. Sie sah sich seine Papiere an, gab sie zurück und roch an seinem Atem.
»Haben Sie etwas getrunken?«
»Nein, Ma’am, nicht viel.«
»Nicht viel, aha. Wieviel also?«
»Höchstens fünf oder sechs Bier.«
»Fünf oder sechs Bier?«
»Ja, Ma’am. Und eine Flasche W-W-Whiskey.«
Luke sah, wie ihre Lippen zu zittern begannen.
»Okay, das reicht. Das gibt einen Strafzettel.«
Joan vermied stets den Blickkontakt, wenn sie fürchtete, in Lachen auszubrechen, und so schüttelte sie jetzt den Kopf und tat, als schreibe sie etwas in ihren Notizblock, der auf dem Tisch lag. Dann riss sie den Zettel ab und gab ihn Luke. Er las ihn. Es war ihre Einkaufsliste.
»Das v-v-verstehe ich nicht, Ma’am.«
»Was denn?«
»Warum wollen Sie mich zu N-N-Negerküssen und M-M-Miederhöschen verdonnern?«
Das war’s. Sie schüttelte sich vor Lachen, und als sich beide wieder beruhigt hatten, war es zehn Uhr und die Stunde vorbei. Sie standen auf, und Joan nahm ihn in den Arm.
»Du bist in Ordnung, Kleiner. Weißt du das?«
Luke lächelte und nickte, und Joan trat einen Schrittzurück und betrachtete ihn. Wie alle übrigen Ausweichmanöver war für ihn auch das Kopfnicken verboten.
»Ich b-b-bin in Ordnung«, sagte er. »Okay?«
»Okay.«
Sie brachte ihn zur Tür und über den Flur, der zur Eingangshalle führte.
»Wie geht’s deiner Mom?«
»Ganz gut. Sie lässt grüßen.«
»Willst du mit dem College immer noch bis zum nächsten Jahr warten?«
»Ja, ja. Mein Dad hält’s für eine gute Idee.«
»Und was denkst du?«
»Ach, ich weiß nicht. Ist wahrscheinlich richtig so.«
Sie starrte ihn an, als würde ihr etwas in seinem Gesicht verraten, dass dies eine Lüge war. Er lächelte.
»Ich meine es ernst. Wirklich«, sagte er.
Joan wusste über ihn und seinen Vater Bescheid. Sie hatten gleich von Anfang an darüber geredet, und obwohl ihr Luke aus irgendeinem seltsamen Gefühl der Loyalität für seinen Vater viel erspart hatte, war sie doch fest davon überzeugt, dass sein Vater in erster Linie für sein Stottern verantwortlich war. Luke glaubte jedoch, dass ihre Abneigung tiefer saß und vielleicht von dem geprägt wurde, was mit einer ihrer Vorgängerinnen geschehen war, einer viel jüngeren Frau, die es seinem Vater angetan hatte. Sie hieß Lorna Drewitt und war seit etwa einem Jahr Lukes Sprachtherapeutin gewesen, als er herausfand, was hinter seinem Rücken passierte.
Es geschah während der Weihnachtsferien; Luke war damals zwölf Jahre alt. Sein Vater holte ihn von der Klinik ab und sagte, er solle im Wagen warten, da er noch mit Miss Drewitt »abrechnen« müsse. Luke hatte etwa zehn Minuten im Wagen gesessen, als ein
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