Im Kreis des Wolfs
Sportpokalen und einer Sammlung Jagdzeitschriften. Von einem Haken am unteren Regalbrett hing sein einstmals so heißgeliebter Baseballhandschuh, auf den irgendein längst pensionierter Superstar mit inzwischen fast verblasster Tinte geschrieben hatte: »Los, Henry, zeig’s ihnen.«
Luke fragte sich manchmal, ob seine Eltern je daran dachten, all das fortzuräumen. Wahrscheinlich wussten sie nicht, was sie mit den Sachen ihres toten Sohns anfangen sollten. Sie zu verstecken war vielleicht ebenso falsch, wie sie einfach liegenzulassen.
Die Regale in Lukes Zimmerhälfte waren voll mit Büchern und einem museumsreifen Durcheinander von Dingen, die er in den Bergen gesammelt hatte: Steine von seltsamer Farbe und Form, knorrige alte Äste, die aussahen wieder Kopf eines Trolls oder versteinerte Reste eines Dinosaurierknochens, sowie Bärenklauen, Federn von Adlern und Eulen und Schädel von einem Dachs und einem Luchs.
Es gab da Bücher, die er wieder und wieder las – Bücher von Jack London, Cormac McCarthy und Aldo Leopold –, und Bücher über nahezu alle Arten von Tieren. Dazwischen versteckt, so wie andere Jungs unanständige Zeitschriften versteckten, standen die Bücher über Wölfe. Er besaß mehr als ein Dutzend davon, einige alte, etwa von Stanley P. Young, doch die meisten von modernen Schriftstellern wie Barry Lopez, Rick Bass oder vom großen Wolfsbiologen David Mech.
Luke schaute auf die Uhr. Ihm blieb noch etwa eine Stunde, ehe es Zeit zum Essen war, also beschloss er, einige von Joans Stimmübungen zu machen. Er legte sich aufs Bett und begann mit dem, was sie den »Körpercheck« nannte. Langsam und tief atmete er ein und aus, entspannte dabei bewusst jeden Muskel, und wenn er ausatmete, ließ er »aus dem Bauch heraus« ein leises Stöhnen hören. Er spürte, wie die Spannung allmählich nachließ.
Und wie Joan ihm geraten hatte, stellte er sich dann vor, dass seine Stimme ein Fluss war, der seinem Mund entströmte, und dass er Worte, irgendwelche Worte, auch unsinnige, auf dem Fluss treiben lassen und hinaus in die Welt schicken konnte.
»Me oh my, how I love cherry pie. Float with the pie, let the pie float by …«
Der Fluss strömte durch die offene Tür, hinaus über den Flur, die Treppe hinab, hinunter ins lauschende Haus.
»My mom’s cherry pie floated up to the sky.«
Nach einer Weile wurde er schläfrig, die Worte kamen langsamer, als verwandle sich der Fluss in einen See, und das Wasser wirbelte umher, füllte das Haus, bis er schließlicheinschlief und die Stille sich ausbreitete, nur durchbrochen vom Muhen eines weit entfernten Kalbes.
So war das Haus in letzter Zeit fast immer: still und leer bis auf die Erinnerungen. Es war so, seit Lukes Schwestern ausgezogen waren, erst Lane, die einen Makler aus Bozeman geheiratet hatte, dann Kathy.
Am besten spürte man dies im Wohnzimmer, von dem alle unteren Räume abgingen. Es war ein großes Zimmer, der Boden aus breiten Zederndielen, die weißverputzten Wände von kräftigem Kiefernholz gerahmt. An der einen Wand stand ein Kamin, in dem an Winterabenden mächtige Scheite brannten, die noch bis zum Morgengrauen glühten. Ein schwarzer, eiserner Rauchfang erhob sich darüber bis hinauf zu den wuchtigen Balken, die, jahrzehntelang dem Rauch ausgesetzt, die Farbe von Sirup angenommen hatten.
An den Wänden hingen die Sticktücher und Wandteppiche, die Lukes Großmutter und schon deren Mutter mit unglaublicher Geduld gestickt und geknüpft hatten. Außerdem hingen hier die Bilder der Henry Calders und die alten Uhren, die Lukes Mutter einmal gesammelt hatte.
Die Gehäuse dieser Uhren waren kastenförmig und aus Ahornholz. Unter den Zifferblättern zierte jede Uhr auf der vorderen Glasscheibe ein handgemaltes Bild, das zumeist Tiere oder Blumen zeigte. Von den fünf Uhren existierten nur noch vier, weil Lukes Bruder einmal vor den Mädchen mit seinen Lassokünsten angeben musste, was ihm letztlich eine Tracht Prügel von seinem Vater eingebracht hatte.
Vor langer Zeit einmal hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass die Uhren stets richtig gingen und gut gepflegt wurden. Jeden Sonntag zog sie sie auf und stellte sie auf die Minute genau, so dass sie zusammen die Stunden anschlugen. Besucher hatten sich oft erstaunt darüber geäußert, wie siebloß den Lärm und all das Geticke ertragen könnten. Doch Eleanor hatte nur gelacht und gesagt, niemand in der Familie würde die Uhren noch hören, was auch stimmte, obwohl Luke sich an einen
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