Im Kühlfach nebenan
noch im Kühlfach vier der Rechtsmedizin lag, trieb ich mich nachts bei meiner sterblichen Hülle herum. Nach der Beerdigung
war mir diese Zuflucht genommen. Mein Kühlfach wurde wieder belegt. Seitdem habe ich die unterschiedlichsten Aufenthaltsorte
ausprobiert. Den Konferenzraum im Rechtsmedizinischen Institut mit dem Fernseher, den Martin für mich einschaltete. Martins
Wohnung, wahlweise mit oder ohne Glotze. Die nächtlichen Straßen der Stadt. Discos, Russenpuffs und Kinos. Aber noch nie habe
ich eine Nacht in einer Kirche verbracht. Oder einer Krankenhauskapelle. Und ich hatte auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.
Abgesehen davon, dass eine Kirche keine Belustigung bietet, war die Kapelle Marlenes Zuflucht und damit für mich tabu.
Ich verbrachte die Nacht in der Notaufnahme der städtischen Unfallklinik. Da ist wenigstens immer was los, besonders |31| am Wochenende. Für Unterhaltung war also gesorgt.
Am nächsten Morgen trollte ich mich wieder ins Krankenhaus zu Martin. Es war ein Sonntag, und so waren mir zwei Dinge klar.
Erstens: Marlene würde wohl auch den Großteil des Tages in der Kapelle verbringen, und zweitens: Gregor würde nach seinem
Besuch im Fitnessstudio bei Martin aufkreuzen. Gregor ist sein bester Freund und, was für Marlene und mich im Moment deutlich
wichtiger war, ein waschechter Bulle. Kriminalhaupt-, -ober- oder sonst ein Kommissar. Er kam wie immer gegen halb elf. Ich
ließ die übliche Begrüßung mit den Abfragen nach dem Befinden (Gregor), der Arbeit (Martin), dem Essen (Gregor), der neuesten
Eroberung (Martin) und Birgit (Gregor) aus und düste los, um Marlene zu holen. Ich traf sie tatsächlich in der Kapelle.
»Lenchen, aufwachen, der Bulle ist da!« »… voll der Gnade, …« »Okay, du bist wach, entschuldige bitte, aber trotzdem solltest du jetzt mitkommen!«
»… du bist gebenedeit …« »Lenchen, das Gebet kennt der liebe Gott schon, von gestern, erinnerst du dich? Komm jetzt!« »… bitte für uns Sünder …« Ich sandte ihr einen elektromagnetischen Schwall der Entrüstung.
»… jetzt und in der Stunde unseres Todes.« »Amen«, rief ich genervt. »Die Stunde deines Todes liegt ein paar Tage zurück und
offenbar hat deine Fürsprecherin gerade Urlaub, also gönn dir ’ne Pause und kümmere dich lieber um die Ermittlungen.«
»Sei nicht so ungeduldig«, säuselte Marlene gütig und war so gar nicht aus ihrer klösterlichen Ruhe zu bringen. |32| Gemessen folgte sie mir endlich aus ihrer kerzenflackernden Gebetshöhle durch die neonflackernden Gänge zu Martins Lieblingssitzecke,
in der er gestern schon mit Birgit gehockt und Obstkuchen gespachtelt hatte.
»Hallo Martin, da sind wir«, begrüßte ich ihn betont formell. Er sollte mir seine Unterstützung nicht versagen können, weil
ich mich angeblich dauernd rüpelhaft anschlich.
»Morgen ist es soweit?«, wollte Gregor gerade wissen. »Soll ich dich abholen?« »Au ja«, trötete ich. »Mit Handschellen, Einsatzwagen
und Blaulicht.«
»Nein, danke«, antwortete Martin artig. »Birgit hat versprochen, mich nach Hause zu fahren.« Gregor zeigte sein leicht anzügliches
Grinsen, das mir gut an ihm gefiel. Wenigstens ein Kerl, der zwischen all den modernen Milchmännern gelegentlich äußerlich
sichtbare Anzeichen von testosterongesteuertem Gedankengut zuließ.
»Sag mal«, begann Martin vorsichtig. »Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit dem Brand in dem Kloster?«
O Mann, der Coca-Cola-Weihnachtstruck mit seinen siebenundzwanzigtausend Glühbirnen und dem lautsprecherverstärkten Glöckchengebimmel
könnte nicht auffälliger sein als Martins unauffällige Fragerei.
»Warum interessierst du dich denn dafür?«, konterte Gregor dann auch gleich misstrauisch in seinem Bullentonfall.
»Ach, nur so …«
Das folgende Schweigen war ätzend. Dazu muss man wissen, was passierte, nachdem Martin damals niedergestochen worden war.
Martin, ja, mein Martinsgänschen, geriet nämlich unter Mordverdacht. Um ihn aus dem |33| Schlamassel wieder rauszubringen, musste ich mich eines genialen Tricks bedienen (können Sie übrigens alles haarklein in ›Kühlfach
4‹ nachlesen – ein bisschen Eigenwerbung dürfte man hier geschickt einbauen, meinte meine Lektorin).
Martin wurde zwar gerettet und der wahre Mörder dingfest gemacht, aber Gregor und Martins schnuckelige Kollegin Katrin wussten
dadurch von meiner Existenz. Damit hatten sie
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