Im Land der Feuerblume: Roman
schlimmer; es könnte ein Zeichen dafür sein, dass sein Schädel gebrochen ist. Er hat jede Menge Schrammen abbekommen«, Jule tastete vorsichtig über die Wangenknochen, »aber da ist nichts, was nicht auch von selbst heilen würde. Wir können natürlich versuchen, seine Schmerzen zu lindern.«
Viktors Gesicht hatte sich bei jeder ihrer Berührungen verzerrt. Still war Greta zu ihm getreten, berührte ihn jedoch nicht, sondern blickte so starr wie vorhin auf den Bruder herab. Elisa war nicht die Einzige, die das Mädchen beobachtete. Erst jetzt bemerkte sie, dass Christine Steiner dem Schicksal der Mielhahn-Kinder doch nicht gleichgültig gegenüberstand und sie ihnen nachgekommen war, auch wenn sie Distanz wahrte und in der offenen Tür stehen blieb.
Jule achtete nicht auf sie, sondern trat auf den dunklen Holzschrank zu, um Lade für Lade zu öffnen.
»Was haben wir denn hier …«, murmelte sie vor sich hin. »Einen Schröpfschnepper und Schröpfgläser … Pah, was soll ich damit? Zwei Lanzetten und zwei zinnerne Injektionsnadeln, mhm … die helfen dem Knaben nicht. Ach, und hier: eine Aderlassbinde und eine Beinschiene.«
Prüfend hielt sie alles hoch, war aber mit nichts zufrieden.
»Sie können doch nicht einfach …«, setzte Christine empört an.
Jule warf einen kurzen Blick auf den Schiffsarzt. »Denken Sie, dieser Trunkenbold geht auf mich los, wenn ich in seinen Sachen stöbere?«, fragte sie spöttisch. »Haben Sie etwa Angst um mich?«
Christine schnaubte nur.
Jule beugte sich vor, um eine der unteren Laden zu öffnen. Sie klemmte, und Elisa kniete sich rasch zu ihr, um ihr dabei zu helfen, sie gewaltsam aufzuziehen. Als sie sich vorbeugte, rutschte ein Medaillon aus Jules Bluse und baumelte vor ihrer Brust. Elisa verbat sich, es zu aufdringlich anzustarren, aber ein kurzer Blick genügte, um das Porträt von zwei kleinen blonden Mädchen zu erkennen.
Jule nahm das Medaillon und schob es wieder unter die Bluse.
»Ach, das …«, meinte sie knapp, denn Elisas Blick war ihr nicht entgangen, »meine beiden Mädchen …«
Elisa entging Christines überraschter Ausruf nicht, auch wenn diese die Frage herunterschluckte, die ihr gewiss auf den Lippen lag: So hatte Jule also nicht nur einen Mann gehabt, sondern auch zwei Töchter?
Doch warum war sie allein auf dem Schiff? Waren ihre Angehörigen womöglich gestorben? Verbarg sie unter ihrer harten Art einen tiefen Kummer?
»Rotwein, Zucker, Sago, Hafergrütze, Perlgraupen …«, zählte Jule auf, »Schonkost für die Kranken. Gibt es denn hier keine anständige Bordapotheke?«
Hinter ihnen grunzte der Schiffsarzt im Schlaf, aber rührte sich weiterhin nicht. Jule schüttelte missbilligend den Kopf, richtete sich wieder auf und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nun auch die oberste Schublade zu erreichen.
Elisa drehte sich zu Viktor um. Unruhig warf der seinen Kopf hin und her, stöhnte wieder. Zumindest kam aus seiner Nase kein frisches Blut mehr. Greta berührte ihren Bruder immer noch nicht, aber Elisa sah, dass sie Cornelius’ Hand genommen hatte und wie er ihr tröstend über den Kopf streichelte.
»Was Eltern Kindern antun können …«, murmelte er traurig.
»Bist früher auch geschlagen worden?«, fragte Jule, ohne das geringste Mitleid zu zeigen.
Er schüttelte rasch den Kopf und senkte den Blick, woraufhin Jule ihn nicht weiter bedrängte.
»Na endlich!«, rief sie, als sie den Inhalt der obersten Schublade inspizierte. »Hier haben wir alles: Chinin-, Alaun- und Calomelpulver und Rizinusöl. Und vor allem das könnte ich brauchen: Castoröl!«
In der Schublade fand sie auch eine Leinenbinde, die sie rasch mit dem Öl tränkte. Dann trat sie wieder zu Viktor und säuberte behutsam seine Wunden. Er verkrampfte sich, schrie auf.
»Still!« Es war das erste Wort, das Greta seit langem sagte, und es klang kaum lauter als ein Hauch. »Still, du musst still sein!«
Ob Viktor sie überhaupt gehört hatte? Elisa hatte den Eindruck, dass er nun seine Zähne zusammenbiss und die klagenden Laute unterdrückte.
»Habe gleich gewusst, dass der Schiffsarzt ein Taugenichts ist«, grummelte Jule. »Längst hätte er dafür Sorge tragen müssen, dass man an die Mannschaft und die Passagiere Zitronensaft und Essig verteilt. Jeder Dummkopf weiß, dass man auf diese Weise viele Krankheiten verhindern kann.«
»Aber wie kann es sein, dass der Kapitän ihn gewähren lässt?«, rief Elisa.
»Hier wurde mehr als nur eine Vorschrift
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