Im Land der Feuerblume: Roman
eine der Frauen zu ihm – die, die sich Jule nannte und die keinen Ehemann hatte. »Sie haben recht«, sagte sie, um sich gleich darauf zu berichtigen: »Will sagen, Sie hätten recht, wenn wir uns nicht auf einem Schiff befänden, auf dem wir uns gegenseitig auf die Zehen treten. Ich habe keine Lust, Ihrem Sohn beim Verbluten zuzuschauen, man sieht doch lieber Erfreulicheres im Leben. Ohrfeigen Sie ihn, wenn Sie meinen, es sei notwendig, ihn zu bestrafen, aber hüten Sie sich davor, ihn wieder bewusstlos zu schlagen. Sonst kriegen Sie’s mit mir zu tun.«
Greta sah, wie ihr Vater nach Luft schnappte, doch noch ehe er ein Wort hervorbringen konnte, stapfte Jule seelenruhig zurück zu ihrer Koje und ließ sich dort nieder. Eine andere fühlte sich bemüßigt, noch eins draufzusetzen.
Christine Steiner trat vor den Vater. »Sie hat recht«, erklärte sie, nicht nur vorwurfsvoll, wie Greta schien, sondern auch triumphierend, weil sie den verhassten Lambert vor allen anderen bloßstellen konnte. »Das ist kein Umgang mit einem Kind.«
»Wollt ihr mir etwa drohen, ihr Weiber?«, stieß Lambert knurrend aus.
Immer mehr glotzten ihn unverhohlen an. Greta konnte ihren Augen kaum trauen, aber selbst ihre Mutter hatte sich aufgerichtet und blickte mit einem Ausdruck tiefster Verwirrung auf den Gatten.
»Ach, verflucht noch mal!«, knurrte der, dann stürmte er nach oben, weil er den Blicken nicht standhielt. Greta konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals davongerannt war.
Behutsam legte Cornelius Viktor auf die Koje. Ihre Mutter machte Platz und senkte rasch wieder ihren Blick.
»Du musst keine Angst mehr haben.« Cornelius streichelte wie vorhin in der Kammer des Schiffsarztes über ihren Kopf.
Greta schloss die Augen, überließ sich dem ungewohnten, wohligen Gefühl, das sich in ihr ausbreitete und sie wärmte. Ja, sie war noch nie von einem Mann getröstet worden. Und es war noch nie geschehen, dass aus einem schlechten Tag ein guter geworden war.
6. KAPITEL
D ie Reise nahm ihren Lauf und brachte wenig Abwechslung; ein Tag glich dem anderen. Die Stimmung in der Kajüte der von Grabergs blieb gedrückt. Als Elisa an jenem Tag, da sie von Annelies Schwangerschaft erfahren hatte, ohne Schiffsarzt zurückkehrte, schien Richard erzürnt. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, beteuerte Annelie, dass es ihr gut ginge und sie keinen Arzt brauchte. Das blasse Gesicht kündete von etwas anderem, aber Richard fügte sich ihrem flehentlichen Blick und schwieg – wie fortan auch Elisa. Manchmal redeten sie über das Essen, manchmal darüber, wie lange die Reise wohl noch dauern würde – doch nie über Annelies Kind. Elisa entfloh der Enge der Kajüte, wann immer es möglich war, und wenn sie dorthin zurück musste, erzählte sie nicht, was sie erlebt hatte.
Etwa eine Woche nachdem sie den Kanal passiert hatten, entdeckte sie gemeinsam mit Cornelius und den Steiner-Kindern eine Masse regenbogenfarbiger, gallertartiger Geschöpfe, die dicht unter der Wasseroberfläche am Schiff vorbeischwammen. Poldi deutete so aufgeregt auf diese Masse, dass schließlich sogar die Matrosen darauf aufmerksam wurden. Einer von ihnen ließ an einem Strick einen Eimer herunter und fing ein paar der sonderlichen Tiere, die aus der Nähe betrachtet wie Pilze aussahen.
»Nicht anfassen!«, brüllte der Mann, doch dafür war es schon zu spät. Neugierig hatte Poldi seine Hand in den Eimer gestreckt – und zuckte sogleich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zurück. »Au!«, klagte er. »Das sticht und brennt wie Brennnessel!«
Er schüttelte die Hand, die sich rötete, und sprang wie verrückt im Kreis, um den Schmerz zu ertragen. Fritz schüttelte finster den Kopf. »Bist selbst schuld.«
Auch der ansonsten zurückhaltende Lukas lachte, und Elisa und Cornelius warfen sich rasch einen verschwörerischen Blick zu. Seit sie sich gemeinsam Viktors und Gretas angenommen hatten, fühlte sie sich nicht mehr so verlegen, wenn sie sich begegneten, und trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Röte ins Gesicht schoss.
Poldis Hand brannte noch tagelang. Von den sonderlichen Tieren sahen sie jedoch keines mehr, stattdessen jede Menge fliegende Fische in der Größe eines Herings. Diese wiederum wurden von Delphinen verfolgt, die sich mitunter in ziemlich weiten Sprüngen über dem Wasser erhoben.
Einmal fand sich das Schiff in einer riesigen Schar Schweinefische wieder, ein jeder von ihnen an die sechs Fuß lang, deren Mund –
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