Im Land der Feuerblume: Roman
erleichtert, dass es ihn traf – nicht sie.
Elisa stolperte tränenblind durchs Schiff. Am liebsten hätte sie sich in irgendeinem dunklen Winkel verkrochen, um nie wieder zurück in die Kajüte zu gehen. Aber zum einen gab es nicht viele Plätze auf dem Schiff, wo sich keine Menschen tummelten und man unbeobachtet blieb; zum anderen wagte sie es nicht, den Befehl ihres Vaters, den Schiffsarzt zu holen, zu missachten. Es war das eine, Richard zu zürnen, aber etwas ganz anderes, sich ihm zu widersetzen. Ersteres war ein vertrautes Gefühl, Letzteres hatte sie noch nie gewagt.
So blieb sie stehen, atmete tief durch und fragte einen der Stewards, wo sie den Schiffsarzt finden würde.
»Zwischen den Kajüten der ersten und zweiten Klasse«, entgegnete er knapp. Sein Mund zuckte dabei irgendwie verächtlich – eine Regung, die sie sich nicht erklären konnte. Galt sie etwa ihren verweinten Augen?
Rasch wischte sie sich die Tränen von den Wangen und beeilte sich dann, zu dem gesuchten Raum zu kommen.
Zaghaft klopfte sie zunächst an die Tür; erst als keine Antwort kam, trommelte sie kräftiger auf das Holz. Immer noch tat sich nichts. Anstatt erneut zu klopfen, presste sie ihr Ohr an die Tür, und es war ihr, als würde sie ein Schnarchen vernehmen.
Wie merkwürdig! Ob es von einem Kranken stammte, der sich in einer der Kojen auskurierte? Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Steward an ihrem ersten Tag auf dem Schiff zwar den Schiffsarzt erwähnt hatte, der ihre Reise begleiten würde, sie diesen aber seitdem nie zu Gesicht bekommen hatten. Kapitän, Steuermann und andere wichtige Stabsmitglieder hatten sich bei den Passagieren der ersten und zweiten Klasse vorgestellt – nicht aber der Mann, der für ihr aller Wohlbefinden Verantwortung trug. Sie kannte nicht einmal seinen Namen.
Als immer noch niemand auf ihr Klopfen reagierte, öffnete Elisa entschlossen die Tür – und wich entsetzt zurück. Der Raum war nicht sonderlich größer als ihre Kajüte; auf der einen Seite befand sich ein wurmstichiger Schrank aus dunklem Nussholz, auf der anderen waren drei Krankenkojen übereinander angebracht – nicht nur viel schmaler als ihre eigene Schlafstatt, sondern völlig verdreckt: Gelbliche und rötliche Flecken verunstalteten das weiße Leinen.
Gott sei Dank waren sie allesamt leer. Hier, so war Elisa sich gewiss, würde kein Kranker genesen. Aber der Zustand der Kojen war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Mann, der in der Mitte des Raums über einem Tisch gebeugt schlief. Seine fleckige Uniform, die ihm am Nacken zu eng war, und das klebrige Haar, das ihm über das aufgedunsene Gesicht fiel, verströmten einen üblen Geruch.
Elisa fühlte, wie etwas gegen ihre Füße stieß. Mit einem leisen Aufschrei fuhr sie zurück und erkannte eine leere Branntweinflasche, die offenbar vom Tisch gefallen war und nun über den Boden rollte, je nach Wellengang mal in die eine, mal in die andere Richtung.
Der Schiffsarzt war ein Trunkenbold!
Sie wollte keinen Augenblick länger in diesem dreckigen Loch verbringen und wich noch weiter zurück, doch in diesem Augenblick hörte sie neben dem Schnarchen des Schiffsarztes noch einen anderen Laut – viel heller, viel verzweifelter, viel eindringlicher. Es klang wie ein Schluchzen und kam von der Mitte des Raums. Sie trat auf den Tisch zu, beugte sich hinab. Was sie dort unter der runden Platte sah, erschreckte sie noch mehr als der üble Zustand der Kajüte und der betrunkene Schiffsarzt.
»Cornelius!«
Sie wusste nicht mehr genau, in welcher Kajüte er mit seinem Onkel untergebracht war. Also lief sie einfach den Gang auf und ab und rief mehrmals seinen Namen. Es war ihr niemand sonst eingefallen, an den sie sich hätte wenden können. »Cornelius! Cornelius!«
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sich endlich eine der Kajütentüren öffnete und Pastor Zacharias Suckow seinen Kopf hervorstreckte. Er war nicht ganz so blass wie in den letzten Tagen und schien sich, entgegen seiner Klagen, an die unruhige See gewöhnt zu haben.
»Ach, das junge Fräulein, dessen Namen ich mir nicht merken kann, aber das ich aus tiefstem Höllenschlund gerettet habe!«, rief er aus. »Mein Neffe und ich spielen gerade eine Partie Schach, oder besser gesagt: Wir würden spielen, wenn die Figuren nicht ständig verrutschten, was für ihn allerdings ein Vorteil ist, denn so kann er der See die Schuld geben, wenn er verliert, nicht mir. Ich würde freilich lieber beim Schach
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