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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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einen langen Bericht über die unheilbare Zwietracht zwischen Weiß und Schwarz in seinem Land, überkommt mich eine heitere Erinnerung. Sie passt, denn sie taugt als Metapher, erklärt so sinnlich die Freuden und Schutzfunktionen des Lesens: Vor Jahren besuchte ich die Terminbörse in Chicago. Als Besucher stand man auf einer Galerie hinter dickem Glas, Lautsprecher übertrugen den Tumult der Gier. Hedgers , traders , brokers , speculators und runners – dieses Wort haben die Börsianer, unter anderem, mit den Drogendealern gemeinsam – grölten durcheinander. Wie an jedem Tag ihres Lebens ging es um die Anhäufung von Geld.
    Und dann geschah das Heitere: Die Lautsprecher fielen plötzlich aus, kein Ton drang mehr durch die dicken Scheiben. Stille. Nur die energischen, pausenlos nach mehr Dollars schreienden Münder und die energisch rudernden, ebenfalls um mehr Dollars ringenden Hände und Arme sah man – tonlos, aberwitzig, absurd –, ein grausames Bild, das an eine Horde Kretins erinnerte. Oder an gottverlassene Männer und Frauen in höchster Gefahr.
    So ähnlich, bilde ich mir ein, ist Lesen. Die Kretins verstummen, für Stunden darf man sich von den grauen Herren zurückziehen, darf ausruhen, wird für Bruchteile seines Lebens nicht gepeitscht von den eiskalten Botschaften der global idiots .
    Abends streune ich durch die Stadt, in den Südwesten, zur Castro Street, den » gayest four corners of earth «, dem fröhlichsten Homoviertel der Welt. Vor zehn Jahren – zu Zeiten des unaufhaltsam wütenden Aidsvirus – sah die Gegend trostlos aus. Am Straßenrand standen die schönsten Männer Amerikas und bettelten. Der Widerspruch zwischen ihren makellosen Körpern und den von Todesangst geschundenen Augen war bestürzend. Das politische Klima unter Reagan war finster. Einige Politiker riefen nach Quarantäne für die Dahinsiechenden. Die moralisch Hochgerüsteten unterm Christenvolk interpretierten mit konstant erigiertem Zeigefinger die Karzinombeulen als Strafe Gottes: »Arschficken ist des Teufels«, las ich damals auf den Postern jener gesattelten Esel.
    Die Zeiten sind anders geworden. Inzwischen verdämmert Reagan an Alzheimer – für welche Todsünde hat sich der liebe Gott diese Krankheit ausgedacht? –, und Mister Ho und andere Wissenschaftler haben Medikamente entdeckt, die dafür sorgen, dass auch Homosexuelle ziemlich lang am Leben bleiben dürfen.
    Und die queens haben gelernt, die Todesrate sinkt kontinuierlich, ihr Lieblingswort heißt seit langem: Safe Sex . Ich blättere in den einschlägigen Magazinen und finde Anzeigen für gesunden Zeitvertreib. Oft wird als Sonderangebot die »Masturbations-Ringschaltung« – garantiert immunschwächefrei – angeboten. Das Inserat zeigt ein prachtvoll erigiertes Männerglied und eine Telefonnummer. Wer die wählt, darf – schon ab zehn Dollar, Kreditkarten willkommen – mitmasturbieren. Bis zu acht Onanisten heizen sich so gegenseitig per Ohrmuschel ein. Zuletzt ein erschöpftes Dankeschön und einhängen.
    Es gibt die angenehme »Krankheit« – so nennen es die, die nicht darunter leiden – der »Erotolalie«: schon beim erotischen Lallen beflügelt werden. Ich leide gern darunter: Sex als Mittel begreifen, auch das Phantasieren, auch das Drauflosreden, um nicht als intellektueller Hirni zu enden, als sexloses Ungeheuer, unter dessen kürbisgroßem Kopf ein blaublasser Körper verkümmert.
    Im Nordosten des Zentrums von Frisco liegt North Beach. Als ich um halb zwölf Uhr nachts dort ankomme, habe ich noch nichts versäumt. Hier herrscht Nachtarbeit. Aufruhr erregte der Szene-Stadtteil, als die 1953 gegründete City Lights Publishing Allen Ginsbergs wüstes, alle heiligen Kühe des Spießers niederreißendes Gedicht Howl veröffentlichte. » Howl « wie Heulen. Das war 1956 und ein Aufschrei fegte über das Land. FBI -Boss J. Edgar Hoover nannte die Beat Generation eine der drei bedrohlichsten Bevölkerungsgruppen in den USA . Das Werk wurde verboten und ein langwieriges Gerichtsverfahren folgte. Dennoch, das Unfassbare wurde Wirklichkeit. Allen Ginsberg, meistgehasster Beatnik aller aufrechten Philister, gewann den Prozess, sein Geheul ging in die Weltliteratur ein.
    Der Gründer von City Lights Bookstore und Publishing lebt noch immer. Der tapfere Lawrence Ferlinghetti ist heute 78 Jahre alt. Sein Freundeskreis, die Toten, wird immer größer. Vor Monaten starben Ginsberg und William Burroughs. » It’s been an awful year «, sagt der Alte,

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