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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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schattigen Kurve des Highway One hat keiner vertrieben. Mächtige Redwoods beschützen die Memorial Library wie eh vor den modernen Zeiten. Das Grün der Wiese stimmt auch noch. Das japanische Holzhaus überlebt noch immer ohne Garagenanbau. Und eine Stiftung sorgt nun für den leichten Gang der Dinge. Neben dem Verkauf von Millers Büchern, den Büchern über ihn und dem Drucken eines Newsletters werden hier Lesungen und Ausstellungen veranstaltet. Augenblicklich steht eine Harley Davidson mit zwei Kloschüsseln als Sitze im Gras. Die Idee des Künstlers scheint begnadet: Nach banking , shopping , eating , petting , fornicating , watching TV und going to the movies braucht sich der Durchschnitts-Johnny auch zur Verrichtung seiner Notdurft nicht mehr vom Lederpolster zu erheben. Er defäkiert vor Ort.
    Im Internet hat die Stiftung unter »www.henrymiller.org« – org wie orgasm , wie ein Witzbold vermutete – einen chatroom eingerichtet. Damit übererhitzte Fans wissen, wo sie unzensiert den schwersten Druck ablassen können.
    Ruhige Geschäfte, zwei schmale Peruaner fingern durch die Bücher, Bienen summen, Pinien wanken sacht, das schonende Geräusch eines Mobiles weht herüber. Wer einen quarter in ein Sparschwein wirft, darf sich aus einer Thermosflasche mit Kaffee bedienen und nur dasein. Ich sitze draußen auf der Holzveranda und heule. Ein banaler physischer Vorgang, auf den ich nicht stolz bin und dessen ich mich nicht schäme. Er hat wohl mit der seit Jahren eintreffenden Erkenntnis zu tun, dass ich dem 1891 in Manhattan geborenen Schriftsteller, dessen Großmutter noch Müller hieß, einiges verdanke.
    Wandern die einen ins Irrenhaus, werfen die nächsten sich vor einem Guru auf die Knie, schmeißen die Unheilbareren sich in den Aufzugsschacht des Empire State Building und schleudern die Haltlosesten durch die Abgründe ihrer Herointrips, so hatte ich mehr Glück. Und fand in einem Bücherhaufen am Rand der Mahatma Gandhi Road im indischen Poona eine eselsohrverstümmelte Ausgabe des Tropic of Cancer von Henry Miller.
    Es war ein böser Nachmittag. Es ging mir nicht gut, eine Woche Dengue-Schüttelfrost lag hinter mir, mein Kopf strudelte, Indien deprimierte mich. Irgendwas, so flehte ich seit Monaten, musste doch existieren, um mich zu erlösen. Erlösen vom Gewicht der eigenen Schwerkraft. Ein Gebet, eine Musik, eine Droge, eine Gnade, eine Meditation, eine Frau, ein Licht, irgendetwas, was mich weichspülte. So trottete ich, in Selbstmitleid vergraben, die M. G. Road entlang. Bis ich mich zur Seite hechten sah, weil ein Autofahrer, so schien es, mich von diesen Überlegungen erlösen wollte. So landete ich neben dem Bücherhaufen, direkt neben Henry Miller. Erst Jahre später begriff ich, dass Henry mich nicht vor meinen Abstürzen bewahrte. Dass er mir aber beim Nachlesen seines Lebens beibrachte, dass es ein Mittel gab, um nach den Abstürzen nicht liegenzubleiben, sondern bereit zu sein für die nächsten Bauchlandungen: Schreiben eben.
    Wendekreis des Krebses , das Buch fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Schon der Titel riecht verführerisch nach Unheil und Erlösung. Der Krebs, welch ein Symbol. Ein Wesen, das sich in alle Richtungen bewegen kann, zu Wasser und zu Lande, vorwärts, rückwärts, links, rechts. Und zugleich trägt es den Namen einer mörderischen Krankheit. Und diese Krankheit ist wiederum Ausdruck einer in ihrer Sehnsucht verkrüppelten Zivilisation, Sehnsucht nach Delirium und Fieber, nach Schwindel und Gelächter, nach Vögeln und Umarmen, nach Taumel und der Weisheit des Leibes.
    Dass der Exilamerikaner, der 1930 für ein knappes Jahrzehnt nach Paris zog, die Hälfte aller Einwohnerinnen von Clichy anpimperte, war unter Lachkrämpfen zu lesen und zu genießen. Und schnell vergessen. Was blieb von der Lektüre des Buches – unübersehbar mit dem Hirn und dem Schwanz geschrieben –, war die Sprache. Sätze, die wie Lavabrocken auf den Leser hagelten. Da stand es: dass einer mit Hilfe von virtuos hintereinander aufgestellten Buchstaben davonkommen konnte. Dass Sprache für alle Gottlosen als Religion taugte, als Urschrei-Therapie, als Schleudersitz und Flammenwerfer.
    Ein zweites blieb, nach der Entdeckung der Sprache als Heilkraut gegen die Hungerödeme der Seele: Millers halsbrecherische Lust am Leben, seine penetranten Aufrufe, sich den Masturbanten des Profits zu verweigern, nicht zuzuhören den jugendgefährdenden Predigern der Frührente, nicht zu vertrauen den

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