Im Land der letzten Dinge (German Edition)
auf einen raschen, gewaltsamen Tod in nicht allzu ferner Zukunft freuen: eine Kugel in den Kopf, ein Messer in den Rücken, mitten in der Nacht ein Paar Hände um den Hals. Mir scheint, das Ganze macht einen am Ende nur wachsamer. Der Tod ist nichts Abstraktes mehr, sondern eine reale Bedrohung in jedem Augenblick des Lebens. Die zur Ermordung Bestimmten fügen sich gar nicht so sehr in das Unausweichliche, sondern werden im allgemeinen aufmerksamer, energischer in ihren Bewegungen, entwickeln ein stärkeres Lebensgefühl – als hätte eine neue Sicht der Dinge sie verwandelt. Viele von ihnen widerrufen schließlich auch und entscheiden sich wieder für das Leben. Aber das ist ziemlich schwierig. Denn ist man einmal einem Mordverein beigetreten, ist ein Austritt nicht mehr statthaft. Gelingt es einem aber, seinen Mörder zu töten, kann man von der Mitgliedschaft entbunden werden – und, wenn man will, sich selbst als Mörder einstellen lassen. Das ist das Gefährliche am Job des Mörders und der Grund dafür, warum er so gut bezahlt wird. Ein Mörder wird zwar nur selten getötet, da er natürlich erfahrener ist als sein zukünftiges Opfer, doch ab und zu geschieht es schon. Unter den Armen, besonders unter armen jungen Männern gibt es viele, die monate- und sogar jahrelang sparen, nur um einem Mordverein beitreten zu können. Wobei die Vorstellung lockt, als Mörder eingestellt zu werden – und damit den Lebensstandard zu erhöhen. Nur wenigen gelingt dies. Wenn ich dir von einigen dieser Jungen erzählte, könntest du eine Woche lang nicht mehr schlafen.
All das bringt eine ganze Menge praktischer Probleme mit sich. Wohin zum Beispiel mit den Leichen? Die Leute sterben hier nicht wie in den alten Zeiten, wo man im eigenen Bett oder im reinlichen Refugium eines Krankenhauses still verschied – sie sterben, wo sie sich zufällig gerade aufhalten, und in den meisten Fällen heißt das: auf der Straße. Ich meine jetzt nicht nur die Renner, die Springer und die Mitglieder der Mordvereine (denn die bilden ja bloß eine winzige Minderheit), sondern wirklich große Teile der Bevölkerung. Mindestens die Hälfte der Menschen haben kein Zuhause, sie sitzen buchstäblich auf der Straße. Leichen sieht man daher überall – auf dem Bürgersteig, in Hauseingängen, auf der Straße. Verlange keine Einzelheiten von mir. Genug, dass ich überhaupt davon spreche – mehr als genug. Was du auch denken magst, mangelndes Mitgefühl ist nicht das eigentliche Problem. Nichts bricht einem hier schneller als das Herz.
Die meisten Leichen sind nackt. Stets streifen Plünderer durch die Straßen, und es dauert nie sehr lange, bis ein Toter seiner Habseligkeiten beraubt ist. Als Erstes verschwinden die Schuhe, denn die sind sehr gefragt und kaum aufzutreiben. Als Nächstes werden die Taschen untersucht beziehungsweise alles andere gleich mit, die Kleider und was noch darin sein mag. Als Letzte kommen Männer mit Meißeln und Zangen, die etwaige Gold- und Silberzähne aus dem Mund reißen. Da ohnehin kein Weg daran vorbeiführt, übernehmen viele Familien, die das Ausplündern nicht Fremden überlassen wollen, es gleich selbst. In einigen Fällen entspringt dies dem Wunsch, die Würde des geliebten Toten zu bewahren; in anderen ist es schlicht ein Akt des Egoismus. Aber ich werde vielleicht zu spitzfindig. Wenn der Goldzahn deines Ehemanns dich einen Monat lang ernähren kann, wer dürfte dir einen Vorwurf machen, wenn du ihn ziehst? Ich weiß, ein solches Verhalten widerstrebt einem, aber wer hier überleben will, muss Prinzipien über Bord werfen können.
Jeden Morgen sammeln Lastwagen der Stadtverwaltung die Leichen ein. Dies ist die Hauptaufgabe der Regierung, und sie gibt dafür mehr Geld aus als für irgendetwas anderes. Den ganzen Stadtrand säumen Krematorien – sogenannte Transformationszentren –, und Tag und Nacht sieht man den Rauch in den Himmel steigen. Doch beim jetzigen schlechten Zustand der Straßen, die zum Großteil bloß noch Schutthalden sind, wird diese Arbeit zunehmend schwieriger. Den Männern bleibt nichts anderes übrig, als die Lastwagen zu parken und sich zu Fuß auf die Suche zu machen, was die Arbeit erheblich verlangsamt. Dazu kommen noch die häufigen Pannen der Lastwagen und gelegentliche Ausschreitungen von Zuschauern. Die Arbeiter der Todeswagen mit Steinen zu bewerfen ist ein beliebter Zeitvertreib der Obdachlosen. Obwohl die Arbeiter bewaffnet sind und ihre Maschinengewehre schon öfter gegen
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