Im Land der letzten Dinge (German Edition)
ist, man rennt und schreit, bis man buchstäblich außer sich ist. Und irgendwann windet sich die Seele los, der Körper stürzt zu Boden, und man ist tot. Die Renner werben damit, dass ihre Methode zu über neunzig Prozent erfolgreich ist – das heißt also, dass fast niemand einen zweiten Todeslauf anzutreten hat.
Verbreiteter sind die einsamen Todesarten. Aber auch diese sind zu einer Art öffentlichem Ritual gemacht worden. Die Leute erklimmen die höchsten Stellen, bloß um herunterzuspringen. Den Letzten Sprung nennt man das, und ich muss zugeben, es hat etwas Bewegendes, jemandem dabei zuzusehen, als eröffne sich einem im Innern eine ganz neue Welt der Freiheit: den Körper am Rand des Daches stehen sehen, und dann jedes Mal der kurze Augenblick des Zögerns, der dem Wunsch zu entspringen scheint, diese letzten Sekunden zu genießen, und wie sich dein eigenes Leben in deiner Kehle zusammenschnürt, bis der Körper sich dann unerwartet (denn es ist nie abzusehen, wann es geschieht) in die Luft wirft und auf die Straße heruntergeflogen kommt. Die Begeisterung der Zuschauer würde dich verblüffen: ihr rasender Jubel, ihre Aufregung. Als hätten die Leidenschaftlichkeit und die Schönheit des Anblicks sie von sich befreit, sie der Armseligkeit ihres eigenen Lebens entrissen. Der Letzte Sprung ist etwas, das jeder begreifen kann, er entspricht jedermanns heimlicher Sehnsucht: blitzschnell zu sterben, sich in einem kurzen und erhabenen Augenblick auszulöschen. Manchmal glaube ich, der Tod ist das Einzige, für das wir überhaupt etwas empfinden. Er ist unsere Kunstform, die einzige Art und Weise, in der wir uns ausdrücken können.
Und doch gelingt es einigen zu überleben. Denn auch der Tod ist zu einer Quelle des Lebens geworden. Bei so vielen Leuten, die Schluss machen wollen, die über die verschiedenen Möglichkeiten nachdenken, diese Welt zu verlassen, kannst du dir vorstellen, was man damit für Geschäfte machen kann. Wer clever ist, kann recht gut vom Tod der anderen leben. Denn nicht alle sind so mutig wie die Renner und Springer, und vielen muss bei ihrem Entschluss geholfen werden. Dass man solche Hilfsdienste bezahlen kann, ist natürlich Vorbedingung; deshalb können praktisch nur die Reichen sie sich leisten. Gleichwohl floriert das Geschäft damit, besonders das der Euthanasiekliniken. Hiervon gibt es mehrere verschiedene Güteklassen, je nachdem, wie viel man dafür anlegen will. Die einfachste und billigste Todesart dauert höchstens ein bis zwei Stunden und wird unter der Bezeichnung Rückreise angeboten. Man meldet sich bei der Klinik an, zahlt an der Kasse sein Ticket und wird dann in ein kleines Privatzimmer mit frischgemachtem Bett geführt. Ein Pfleger deckt dich zu und gibt dir eine Spritze, dann schlummerst du ein und wachst nicht mehr auf. Die nächste Preisstufe ist die Reise der Wunder, die ein bis drei Tage dauern kann. Hierbei bekommt der Kunde, regelmäßig über einen gewissen Zeitraum verteilt, eine Reihe von Injektionen, die ihm ein euphorisches Gefühl von Losgelöstheit und Glück vermitteln, bis dann die letzte, tödliche Spritze verabreicht wird. Und schließlich gibt es die Vergnügungsfahrt, die sich bis über zwei Wochen erstrecken kann. Hier werden die Kunden üppig verwöhnt und auf eine Weise umsorgt, die sich durchaus mit dem Prunk der alten Luxushotels messen kann. Es gibt ausgeklügelte Menüs, Wein, Unterhaltung und sogar ein Bordell, das Männern und Frauen gleichermaßen offensteht. Die Kosten hierfür sind enorm, aber es gibt Leute, die der Versuchung, einmal, und wenn auch nur kurze Zeit, das süße Leben zu genießen, einfach nicht widerstehen können.
Man kann sich aber nicht nur bei den Euthanasiekliniken seinen Tod kaufen. Auch bei den Mordvereinen ist das möglich, und deren Beliebtheit wächst ständig. Wenn jemand sterben will, aber Angst hat, selbst Hand an sich zu legen, kann er gegen eine relativ bescheidene Gebühr dem Mordverein seiner Zensuszone beitreten. Daraufhin wird ihm ein Attentäter zugeteilt. Von den Vorkehrungen erfährt der Kunde nichts, und alles, was mit seinem Tod zu tun hat, bleibt ihm verborgen: der Zeitpunkt, der Ort, die Art der Ausführung, die Identität seines Mörders. In gewisser Hinsicht geht sein Leben weiter wie zuvor. Der Tod steht als absolute Gewissheit am Horizont, und nur die Todesart bleibt unergründlich. Anstatt auf Alter, Krankheit oder einen Unfall warten zu müssen, kann das Mitglied eines Mordvereins sich
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