Im Land der letzten Dinge (German Edition)
die Menge gerichtet haben, können ein paar Steinewerfer, die geschickt jede Deckung auszunutzen wissen, mit ihren blitzschnellen Vorstößen die Arbeit der Leichensammler vollständig zum Erliegen bringen. Ein schlüssiges Motiv liegt diesen Attacken nicht zugrunde. Zorn, Unmut und Langeweile sind die Ursachen, und da die Sammler die einzigen Vertreter der Stadtverwaltung sind, die überhaupt einmal in den Bezirken auftauchen, benutzt man eben sie als Zielscheibe. Man könnte sagen, die Steine repräsentieren den Abscheu der Leute vor einer Regierung, die erst dann etwas für sie tut, wenn sie tot sind. Aber damit ginge man zu weit. Die Steine sind ein Ausdruck des Elends, ganz einfach. Denn so etwas wie Politik wird in der Stadt nicht betrieben. Dazu sind die Leute viel zu hungrig, zu verzweifelt und zu zerstritten.
Die Überfahrt dauerte zehn Tage, und ich war der einzige Passagier. Aber das weißt du bereits. Du hast den Kapitän und die Besatzung kennengelernt, du hast meine Kabine gesehen, und ich brauche mich nicht noch einmal darüber auszulassen. Die Zeit verbrachte ich damit, das Wasser und den Himmel anzuschauen, und in den ganzen zehn Tagen habe ich kaum einmal ein Buch aufgeschlagen. Wir sind bei Nacht in die Stadt eingelaufen, und erst da begann ich ein wenig in Panik zu geraten. Die Küste war vollkommen schwarz, nirgendwo Lichter, und ich fühlte mich, als beträten wir eine unsichtbare Welt, einen Ort, in dem nur Blinde lebten. Aber ich hatte ja die Adresse von Williams Büro, und das beruhigte mich ein wenig. Ich brauchte bloß dorthin zu gehen, dachte ich, und alles andere würde sich von allein ergeben. Zum Allermindesten war ich zuversichtlich, dass ich Williams Spur würde aufnehmen können. Aber da war mir noch nicht klar, dass es die Straße gar nicht mehr gab. Nicht dass das Büro leer war oder das Gebäude verlassen. Es gab weder das Gebäude noch die Straße noch sonst irgendetwas: nichts als Schutt und Steine im weiten Umkreis.
Das war, wie ich später erfuhr, die dritte Zensuszone, in der etwa ein Jahr zuvor irgendeine Seuche ausgebrochen war. Die Stadtverwaltung hatte sich eingeschaltet, das Gebiet absperren und alles darauf niederbrennen lassen. So hieß es jedenfalls. Inzwischen habe ich gelernt, die Dinge, die man mir erzählt, nicht allzu ernst zu nehmen. Nicht dass die Leute es darauf anlegen, einen zu belügen; nur gerät die Wahrheit, wenn es um Vergangenes geht, ziemlich rasch ins Dunkel. Legenden bilden sich binnen Stunden, Märchen zirkulieren, und bald sind die Tatsachen unter einem Berg haarsträubender Mutmaßungen verschwunden. In der Stadt tut man gut daran, nur das zu glauben, was man mit eigenen Augen sieht. Doch nicht einmal die sind unfehlbar. Denn weniges ist wirklich so, wie es scheint, besonders hier, wo man mit jedem Schritt so vieles aufzunehmen hat, wo so vieles sich dem Verständnis widersetzt. Was immer man sieht, kann einen verletzen, kann einen schrumpfen lassen, als nähme einem der bloße Anblick einer Sache einen Teil seiner selbst weg. Oft hat man das Gefühl, es wäre gefährlich, hinzusehen, und man gewöhnt sich daran, den Blick abzuwenden oder gar die Augen zu schließen. Und das führt leicht in die Irre, man wird unsicher, ob man wirklich das sieht, was man anzusehen glaubt. Gut möglich, dass man es sich nur vorstellt oder mit etwas anderem verwechselt oder sich an etwas früher Gesehenes – oder gar Eingebildetes – erinnert. Du siehst, wie schwierig das ist. Es reicht einfach nicht, etwas anzusehen und sich zu sagen: «Ich sehe das jetzt.» Das ist schön und gut, wenn man etwa einen Bleistift oder eine Brotkruste vor Augen hat. Aber was, wenn du ein totes Kind betrachtest, ein kleines Mädchen, das völlig unbekleidet auf der Straße liegt, mit zerschmettertem Kopf und voller Blut? Was sagst du dir dann? Es ist gar nicht so einfach, verstehst du, geradeheraus und ohne Umschweife festzustellen: «Ich sehe ein totes Kind.» Dein Verstand scheint vor der Bildung dieser Worte zurückzuschrecken, du bringst es irgendwie nicht über dich. Denn zwischen dem, was du da vor Augen hast, und dir selbst ist gar nicht so leicht zu unterscheiden. Das ist es, was ich unter Verletztwerden verstehe: Es gibt kein losgelöstes Sehen, denn alles ist gleichsam ein Teil von dir, gehört zu der Geschichte, die sich in dir entfaltet. Es wäre vermutlich hilfreich, sich so zu verhärten, dass nichts einen mehr berühren könnte. Aber dann wäre man allein, so
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