Im Land der Orangenbluten
noch mehr an. Passanten sprangen beiseite, als die vier schweren Tiere mit dem Wagen in höllischem Tempo die Straße entlangrasten.
Der Kutscher der Vandenbergs registrierte nur ein schnelles Ohrenspitzen seiner Pferde und deren leichtes Zögern, dann stürmte das führerlose Gespann der Kaltblüter bereits um die Straßenecke. Seine Pferde scheuten, hatten aber keine Chance auszuweichen. Die vier massigen Körper der Lastpferde prallten mit voller Wucht in den Zweispänner. Innerhalb eines Wimpernschlags schoben sich Lastenwagen und Kutsche ineinander. Zitternde Pferdekörper, reißendes Leder und berstendes Holz. Der Wagen der Vandenbergs wurde auf die Seite geschleudert. Jemand schrie. Das Letzte, was Julie wahrnahm, war graues Straßenpflaster, das auf sie zuflog. Dann wurde es dunkel.
»Mama?«
Hatte sie geträumt? Angestrengt versuchte Julie, die Augen zu öffnen, doch ihre schweren Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, und der erste kleine Lichtstrahl blendete sie. Hatte sie geschlafen?
»Schhhh ... bleib still liegen«, flüsterte eine Stimme in weiter Ferne.
»Mama?« Julie bekam endlich die Augen auf und blinzelte.
»Nein, ich bin es, Marit.«
Schemenhaft erkannte Julie das schmale Gesicht ihrer Kinderfrau. Diese beugte sich über sie und strich ihr behutsam eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. »Bleib schön still liegen, Juliette, hörst du!«
»Was ist los?« Ihr war ganz komisch. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ein jäher Schmerz im Bein ließ sie zusammenzucken.
Marit legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft in die Kissen. »Juliette, du musst still liegen bleiben!« Der Ton ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Julie sank auf die Kissen, und noch bevor ihr Kopf den Bezug berührt hatte, war sie wieder in einen tiefen, traumlosen Zustand geglitten.
Als sie nach Stunden erneut erwachte, gelang es ihr nur mit Mühe, die schweren Lider ihrer Augen zu heben. Julie blickte sich völlig verwirrt um und sah, dass sie in ihrem Zimmer lag. Die schweren Vorhänge, die sonst eigentlich nur zur Dekoration seitlich der Fenster hingen, waren zugezogen, draußen schien es aber hell zu sein. Warum lag sie mitten am Tag im Bett? Als sie versuchte, sich aufzurichten, verspürte sie erneut einen stechenden Schmerz im Bein. War sie verletzt?
Was war passiert? Warum war sie so müde?
Ihr wurde schwindelig, und dann war es wieder dunkel.
Als Dr. Maarten wenig später Juliette Vandenbergs Zimmer betrat, erhob sich Marit leise von ihrem Stuhl. Sie knetete nervös das Taschentuch in ihrer Hand. Mit einem Blick auf Julie flüsterte sie: »Sie war vorhin zweimal kurz wach, jetzt schläft sie wieder.« Die Sorge um das Kind stand ihr im Gesicht geschrieben.
Dr. Maarten nickte, rückte seinen Zwicker auf der Nase zurecht und betrachtete das Mädchen nachdenklich. Das arme Kind, welche Tragödie! Er kannte die Vandenbergs schon lange, Juliette hatte er bereits als Baby in den Armen gehalten.
»Sie hat nach ihrer Mutter gefragt.« Marit wischte sich mit dem Taschentuch über die geröteten Augen. Ihr übermüdetes Gesicht zeigte eine ungesunde blasse Farbe, das graue Hauskleid war zerknittert.
Dr. Maarten legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Marit, ich weiß, dass Juliette das Schlimmste noch bevorsteht, aber sie muss es erfahren, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist, wie wir besprochen haben.«
Marit schluchzte leise und nickte.
»Gehen Sie und ruhen Sie sich etwas aus, ich bleibe jetzt ein bisschen bei ihr.« Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem Marit an Julies Seite gewacht hatte. Die Kinderfrau stand unschlüssig am Fußende des Bettes.
»Nun gehen Sie schon.«
Julie regte sich, und der Arzt beugte sich vor, um zu sehen, ob sie die Augen öffnete. Aber sie blieben verschlossen. Julies Bewusstlosigkeit schien endlich einem heilsamen Schlaf gewichen zu sein.
Als Julie am nächsten Tag erwachte, gelang es ihr endlich, einige klare Gedanken zu fassen.
»Was ist mit meinem Bein? Werde ich wieder laufen können?«, fragte das Mädchen mit einem Blick auf den dicken Verband besorgt.
»Der Knochen ist gebrochen. Dr. Maarten sagt, es wird gut verheilen.« Marit streichelte liebevoll die Wange ihres Schützlings und zog dann die Bettdecke über den Verband.
»Wie lange dauert das denn?«
»Du wirst noch einige Wochen liegen bleiben müssen, bis der Knochen zusammengewachsen ist«, sagte die Kinderfrau und setzte sich wieder auf den Stuhl neben
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