Im Land der Orangenbluten
Als die Kutsche die Einfahrt hinabfuhr, wirbelten die Hufe der Pferde eine Wolke aus rotem Sandstaub auf.
»Wird Zeit, dass es mal wieder regnet. Diese Hitze ...« Jan Vandenberg klopfte sich die feinen Körner vom dunklen Sakko.
Seine Frau Helena, die rücklings zum Kutscher im offenen Wagen saß, streckte die Hand nach ihrer Tochter Juliette aus. »Komm zu mir rüber.«
Doch die neunjährige Julie, wie sie liebevoll von ihren Eltern genannt wurde, schüttelte den Kopf. »Mama, hier kann ich viel besser sehen.« Sie kuschelte sich an den Arm ihres Vaters und hielt ihr Gesicht in den kühlen Fahrtwind.
Seit einigen Wochen lähmte eine drückende Hitze die Menschen und Tiere. Froh, an diesem Juniabend dem stickigen Stall ein paar Stunden zu entkommen, verfielen die Pferde jetzt auf der Straße in einen forschen Trab. Und auf den Straßen Rotterdams erwachte in der lauen Abendluft langsam das Leben.
Julie war auch heute stolz, dass sie ihre Eltern zu einem Dinner bei Freunden begleiten durfte. Es war nicht das erste Mal, und wie immer erfüllte sie die Vorfreude mit einer kribbeligen Nervosität. Ihre Gedanken drehten sich um die feine Gesellschaft, die sie besuchen würde. Hoch konzentriert, sodass sich ihr kleiner Mund verkniffen spitzte, ging sie nochmals die Dinge durch, die sie beachten musste: den höflichen Knicks vor der Gastgeberin, die einzelnen Besteckteile bei Tisch und wie sie zu benutzen waren. Hoffentlich gab es nichts Schwieriges zu essen! Mit Muscheln hatte sie immer Probleme und kleckerte dann oft. Und dass sie sich ja nicht mit dem Ärmel über die Nase wischte! Sie wünschte sich so sehr, dass sie ihre Sache gut machte. Sie hoffte, ihre Eltern würden stolz auf sie sein und sie wegen ihres Benehmens loben.
Julie bewunderte ihre Mutter, die immer mit einer absoluten Selbstsicherheit und stillen Eleganz auftrat. Ihr Vater war, als angesehenes Mitglied der Rotterdamer Gesellschaft, gleichermaßen beliebt und souverän als Gast wie als Gastgeber. Er wusste ein Gespräch immer zu lenken, brachte gerne kleine Scherze ein. Selbst als die Köchin der Werkendams bei einem der letzten Besuche die Dinnersuppe so versalzen hatte, dass die Gastgeberin hochrot anlief und die Gäste husteten, hatte ihr Vater freundlich gelächelt und bemerkt, die Speise sei durchaus exotisch, aber dennoch schmackhaft. Und sein Wort zählte, alle hatten weitergegessen, hinterher aber dem Wein reichlich zugesprochen. Sie wollte eines Tages auch so werden wie ihre Eltern.
»Nun setz dich schon zu deiner Mutter, sonst siehst du gleich aus wie ein Staubmädchen.« Jan Vandenberg schob das blond gelockte Kind hinüber auf die gegenüberliegenden Sitzpolster. Julie tauchte aus ihren Gedanken auf und schaute erschrocken an sich herab. Auf ihrem Kleidchen lag ein leichter rötlicher Schimmer. Nein – mit einem verschmutzten Kleid konnte sie nicht beim Dinner erscheinen.
Helena versuchte, den Schmutz mit sachtem Streichen zu entfernen. »Nicht schlimm Schatz, das sieht man gar nicht!« Dann schob sie ihrer Tochter eine verirrte Locke zurück unter das kleine Hütchen, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zärtlich an sich.
»Schau, jetzt werden wir beide gleich ganz sauber ankommen, während dein Vater eher einem Straßenfeger ähneln dürfte. Vielleicht lassen sie ihn so gar nicht rein ...«
Julie hob den Blick und betrachtete besorgt ihren Vater. Das leise Lachen ihrer Mutter aber verriet, dass ihre Worte wohl eher als Scherz gemeint waren.
Niemand von ihnen ahnte zu diesen Zeitpunkt, welch tragisches Ende dieser Sommertag nehmen würde.
Ein paar Straßen weiter hatte ein Kutscher sein Gefährt abgestellt: vier wuchtige Belgische Kaltblüter vor einem Wagen, voll beladen mit Weinfässern. Ein paar kleine Jungen, durch die frische Brise des Abends übermütig geworden, machten sich einen Spaß daraus, eines der Pferde mit einem langen Stock zu kitzeln, bis es gereizt mit dem Schweif schlug, aufstampfte und sich dabei mit einem Hinterbein in der Leine verfing, die der Kutscher am Kutschbock festgeknotet hatte. Die vorderen Pferde bekamen dadurch einen kräftigen Ruck im Maul. Eins von ihnen scheute heftig. Sofort setzte sich das Gespann in unkontrolliertem Galopp in Bewegung. Die Bengel rannten blitzschnell in einen Hinterhof, wohl wissend, dass sie es übertrieben hatten. Der herbeieilende Kutscher konnte seinem Wagen nur noch fassungslos nachschauen. Fässer polterten herab und stachelten die Panik der Pferde
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