Im Land der Orangenbluten
schien keines der Betten belegt zu sein, aber vielleicht würde sie nicht allein hier wohnen!
Julie trat an das schmale Fenster heran. Sie blickte auf einen Innenhof, wo gepflegte Kieswege zwischen kleinen Beeten verliefen. Wie ein Klostergarten, dachte sie spontan. Sie setzte sich auf die Bettkante, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Ihr blieb nichts als zu warten. Sie fror, aber es gab keinen Ofen im Zimmer, und sie war müde, aber die Laken des Bettes waren klamm, und sie widerstand dem Bedürfnis, sich trotzdem einfach ins Bett zu legen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Nachdenklich starrte Julie auf die abgenutzten Dielen des Fußbodens. Durch dieses Zimmer waren offensichtlich bereits unzählige kleine Füße getrappelt. Ob die anderen Mädchen am Anfang auch so einsam gewesen waren wie sie jetzt? Alles hier erschien ihr trostlos. Es gelang ihr nur mit Mühe, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie musste stark sein, das hatte Marit ihr immer wieder gesagt. Und auch ihre Mutter hätte es so gewollt.
Als nach einer scheinbaren Ewigkeit immer noch niemand gekommen war, um sie zu holen, schlich Julie sich auf den Korridor und trat an eines der Fenster. Von dort konnte sie die Straße vor der Schule sehen. Das Gespann des Onkels stand im Dämmerlicht vor dem Portal. Dampfschwaden stiegen von den warmen Pferdeleibern auf und vermischten sich mit dem aufsteigenden Nebel der Nacht. Dann trat Wilhelm Vandenberg aus der Tür. Er stieg in die Kutsche und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Vaarwel!
Lebe wohl!
Vereinigtes Königreich der Niederlande, Surinam 1858–1859
Elburg, Amsterdam, Plantage Heegenhut
Kapitel 1
Julie rannte mit dem Brief in der Hand durch die Gänge des Internats. Eine Treppe hoch, um eine Ecke, einen weiteren Korridor entlang. Sie kannte das Gebäude inzwischen in- und auswendig. Seit über acht Jahren war sie nun hier. Aber erst seit dem Amtsantritt von Frau Koning vor drei Jahren und dem fast zeitgleichen Einzug von Sofia in ihr Zimmer fühlte sie sich einigermaßen wohl. Das Internat war ihr ein Zuhause geworden, aber keine Heimat.
Frau Koning hatte die Führung des Internats übernommen, nachdem ihre Vorgängerin, die Julie damals empfangen hatte, nach endlosen Querelen gezwungen worden war, das Amt aufzugeben. Frau Büchners Abberufung war für Julie ein Segen gewesen. Der neuen Direktorin brachte sie Bewunderung und Ehrfurcht entgegen. Was hatte sich durch Frau Koning alles geändert – nicht zuletzt für sie persönlich!
Das Mädcheninternat Admiraal van Kinsbergen war vor vielen Jahren in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters als Pendant zu einer ebenfalls in Elburg ansässigen Jungenschule gegründet worden, die einen ausgesprochen guten Ruf besaß. Allen Erwartungen zum Trotz konnte das Mädcheninternat jedoch nie an den Erfolg der Jungenschule heranreichen. Als die Schülerzahlen stagnierten, berief man die erfahrene Pädagogin Büchner zur Direktorin. Die Rettung der Schule ließ sich tatsächlich zunächst gut an. Was aber den dann folgenden Sinneswandel der Dame hervorrief, war allen ein Rätsel. Direktorin Büchner verfiel nach kurzer Zeit, noch vor Julies Ankunft, in einen religiösen Eifer, der dem Ansehen der Schule mehr schadete denn nützte. Die Familien meldeten ihre Töchter nach und nach von der Schule ab, bis nur noch die Mädchen dort wohnten, die keine andere Bleibe hatten. Julie hatte sich mehr als einmal gefragt, ob ihr Onkel wohl um den Ruf der Schule wusste. Sie hatte freilich nie gewagt, ihn selbst um eine Antwort zu bitten. Er hatte sie damals lediglich hier abgegeben und sich nicht weiter um sie gekümmert. Er sorgte dafür, dass ihr Schulgeld pünktlich gezahlt wurde, und einmal im Jahr musste Julie ihn für drei Wochen besuchen, mehr aber auch nicht. Die Familie ihres Onkels blieb ihr fremd. Die kurzen Aufenthalte brachten keine Vertrautheit.
Julie hätte sich im Übrigen nie angemaßt, die Zustände in der Schule zu bemängeln. So durchlitt sie fast fünf Jahre lang die zahlreichen und immer gleichen Gottesdienste in der eiskalten Klosterkapelle, die einen Großteil ihres Alltags bestimmten, und besuchte geduldig die ihr unendlich erscheinenden Gebetsstunden.
Als dann kurz vor dem endgültigen Aus der Schule die Zügel an Alida Koning übergeben wurden, änderten sich zahlreiche schulische und alltägliche Abläufe im Internat. Die neue Direktorin führte einen modernen Lehrplan ein und erlaubte ihren Schützlingen
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