Im Land der Orangenbluten
Geburtstag der Duft eines selbst gebackenen Kuchens.
»Was ist los? Bekommen wir Besuch?«
Julie erwischte ihre Kinderfrau in einem der Gästezimmer, wo diese gerade die Fenster zum Lüften geöffnet hatte. Marits Antwort fiel unbefriedigend knapp aus. »Ja.«
Sie schob Julie beiseite, um die Betten aufzuschlagen. Das war eigentlich Aufgabe der Hausmädchen, aber die hatten in den letzten Wochen alle das Haus verlassen und sich neue Anstellungen gesucht. Nur Marit und die alte Köchin waren geblieben.
Julie sah Marits Treiben einen Moment lang verwundert zu. Warum hatte man ihr bis jetzt nichts von einem Gast gesagt, und warum hielt Marit den Namen des Besuchers vor ihr geheim? Seit ihre Eltern ... seit dem Unfall und der Beerdigung war eigentlich gar kein Besuch mehr ins Haus der Vandenbergs gekommen. Wer hätte ihn auch empfangen sollen?
»Juliette, geh auf dein Zimmer. Ich komme gleich und helfe dir beim Ankleiden.« Marit schob das Mädchen zur Tür, und Julie trottete nachdenklich davon.
Kurz darauf half Marit – immer noch wortkarg – Julie in ein hübsches Kleid und steckte ihr die geflochtenen Haare zum Kranz auf. Die Kleine ließ die Prozedur widerstandslos über sich ergehen und zupfte verlegen an ihrem Kleid herum. Es war nicht ganz bodenlang, und unter ihren Strümpfen sah man, dass ihr linkes Bein noch merklich dünner als das rechte war. Der Doktor hatte gesagt, es würde sich mit der Zeit geben. Bisher war ihr das egal gewesen, aber nun, so fein herausgeputzt, fiel es ihr auf, und sie genierte sich etwas. Marit reagierte nicht auf ihren verlegenen Blick und band ihr noch eine Schleife in das goldblonde Haar. »So, und jetzt komm«, sagte sie entschieden und schob Julie zur Tür hinaus.
Unten im Haus waren die Räume sauber und ordentlich aufgeräumt, jemand hatte die Laken von den Möbeln entfernt, und im Salon war bereits die Kaffeetafel gedeckt. Julie war aufgeregt.
Dann hörte sie eine Kutsche vorfahren. Leise drang das Klimpern der Pferdegeschirre bis in den Flur, und sie hörte den Kies der Einfahrt knirschen, als der Wagen zum Stehen kam. Marit ging zur Tür, um zu öffnen, während Julie unschlüssig in der Eingangshalle stand. Sie fühlte sich unglaublich einsam, wie gern hätte sie ihre Eltern jetzt um sich gehabt.
Ihre Anspannung lockerte sich etwas, als sie sah, dass Herr Lammers das Haus betrat. Er hatte als Anwalt und Notar für Julies Vater gearbeitet und die Familie regelmäßig besucht. Nachdem Marit ihn ehrerbietig begrüßt hatte, trat er auf Julie zu. »Mejuffrouw Vandenberg, es freut mich, Sie wieder wohlauf zu sehen.« Julie knickste höflich und bedankte sich, ganz wie sie es gelernt hatte. Trotzdem blieb sie skeptisch. Herr Lammers machte einen verunsicherten Eindruck, geradezu wie ein ängstliches Eichhörnchen, und der Funke seiner fahrigen Nervosität sprang gleich auf Julie über.
Vor dem Haus fuhr deutlich hörbar eine weitere Kutsche vor. Julie blickte fragend zu Marit. Wer kam jetzt noch? Und was wollte Herr Lammers hier?
Doch bevor sich jemand erklärend hätte äußern können, betrat ein weiterer Gast das Haus. Als Julie dem Mann ins Gesicht sah, weiteten sich ihre Kinderaugen für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment. Sie schnappte nach Luft, doch dann bemerkte sie den Trugschluss. Die Ähnlichkeit dieses Mannes mit ihrem Vater war frappierend. Aber natürlich war er es nicht.
»Juliette, dies ist dein Onkel Wilhelm Vandenberg.« Marit schob das Kind sanft auf den Mann zu.
»Juliette, es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte der Mann übertrieben freundlich. Es schwang aber weder echte Freude noch Herzlichkeit in seiner Stimme mit.
Julie knickste brav und griff dann haltsuchend nach Marits Hand. Sie konnte sich an keinen Onkel erinnern. Sie war sich fast sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Zumindest nicht leibhaftig. Hatten ihre Eltern von ihm gesprochen? Sie meinte sich daran zu erinnern, dass ihr Vater ihn einmal erwähnt hatte. Oder bildete sie sich das nur ein? Nachdenklich folgte sie Marit, die die Gesellschaft zu Tisch geleitete, wo sie Julies kleine Hand schließlich sanft aus der ihren löste und ihr einen Stuhl zurechtrückte. Jetzt erst bemerkte Julie, dass Marits Gesicht wie versteinert wirkte.
»Danke, Mädchen.« Das Nicken des Onkels war ein klares Zeichen für die Kinderfrau, den Raum zu verlassen. Julie blickte ihr Hilfe suchend nach. Musste sie jetzt etwa mit diesen Erwachsenen allein am Tisch sitzen? Julie bekam Angst: Was, wenn
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