Im Land der Orangenbluten
Wir hatten uns doch schon so gefreut!« Entsetzt blickte Sofia ihre Freundin an.
Julie zuckte nur ergeben mit den Schultern. »Ich war genauso überrascht, als Frau Koning mir eben dieses Schreiben überreichte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es ablehnen. Ich will da nicht hin!«, seufzte sie. »Du weißt, ich hasse diese jährlichen Zwangsbesuche. Wenn ich doch nur mit zu dir kommen könnte!« Traurig schaute Julie ihre Freundin an. Sie hatten es sich so schön ausgemalt: Julie sollte das erste Mal auch in den Winterferien mit zu Sofia. Eine Vorstellung, die ihr wesentlich besser gefiel als ein Aufenthalt bei ihrem Onkel. Schriftlich hatten sie um Erlaubnis gebeten. Die entsprechende Antwort aber fiel jetzt unerfreulich aus.
»Ach komm, so schlimm wird’s wohl nicht werden. Letztes Jahr war es doch auch ... nett.« Sofia versuchte, die Situation zu retten. Sie wusste, was der Aufenthalt bei ihr zu Hause für Julie bedeutete. Aber wenn der Onkel sich sperrte, würde daraus nichts werden.
Als nach Alida Konings Amtsantritt die ersten Sommerferien vor der Tür gestanden hatten und alle Mädchen, bis auf Julie, betriebsam ihre Sachen packten, hatte sich die Direktorin auch hier etwas einfallen lassen.
»Juliette? Fährst du nicht zu deinem Onkel im Sommer?«
Julie hatte betrübt mit dem Kopf geschüttelt. »Nein, ich darf dort nur im Winter hin, im Sommer fährt die Familie in die Sommerfrische. Und ich ... sie möchten nicht ...«
Der Direktorin hatte das Mädchen leidgetan. Sollte Juliette die schönste Zeit des Jahres in diesen dunklen Mauern verbringen?
»Du könntest doch vielleicht mit zu Sofia. Ich werde die de Weeks fragen«, hatte sie spontan vorgeschlagen. Und Julie mit dieser Idee zum ersten Mal seit langem in den Genuss von familiärer Geborgenheit gebracht.
Sofias Familie war sofort begeistert gewesen. Wohl auch, weil Sofia selbst unter ihren drei älteren Brüdern immer etwas einsam war. Herzlich hatten die de Weeks Julie aufgenommen. Diese hatte sich zwar erst etwas unwohl gefühlt, sie wollte sich niemandem aufdrängen, aber die Scheu war schnell von ihr abgefallen, und sie hatte den Aufenthalt bei Sofia in vollen Zügen genossen. Seitdem hatte Julie jede Ferien, bis auf die jeweiligen drei Wochen im Winter, bei Sofia und deren Familie auf dem seit vielen Generationen in Familienbesitz befindlichen Landgut Hallerscoge verbracht. Es war ein wunderschönes altes Herrenhaus inmitten geheimnisvoller Wälder, umgeben von Kreeken, auf denen Enten dahinpaddelten, und Weiden voller prachtvoller Pferde. Dieses Haus war erfüllt von Leben und Liebe. Sofia hatte eine große Familie, und immer herrschte reges Treiben. Sie machten gemeinsam Ausflüge zum Picknick, häufig kam Besuch, und den Höhepunkt des Sommers bildete stets die große Jagdgesellschaft. Für Julie waren die Wochen auf Hallerscoge wie ein Traum. Dort hatte sie ein eigenes Zimmer, durfte hübsche Kleider tragen und wurde voll in das Familienleben einbezogen. Sofias Mutter hatte nie einen Unterschied zwischen Julie und ihren eigenen Kindern gemacht. So manchen Abend vor dem Einschlafen hatte Julie Alida Koning im Stillen für ihren Einsatz gedankt.
Jetzt war der Traum vom winterlichen Aufenthalt bei Sofia geplatzt.
Wie immer, wenn es Sorgen oder Probleme zu beraten gab, zog es Sofia und Julie aus der Enge des Internats hinaus in die Natur. Julie hatte während ihrer ersten fünf Jahre nichts von der Schönheit des Städtchens Elburg mitbekommen, sie hatte einzig den Ausblick aus den Fenstern und den Weg zur Kirche gekannt. Umso mehr hatte sie während der vergangenen drei Jahre die Freiheit genossen.
Es war Anfang Dezember, und die Luft war merklich abgekühlt. Die Mädchen hatten sich warm angezogen, ihr Atem bildete kleine weiße Wolken, und ihre Füße stoben raschelnd durch das gefallene Laub der alten Eichen. Nachdenklich gingen sie nebeneinander auf dem breiten Weg zwischen der alten Stadtmauer und der tiefen Gracht, die Elburg gänzlich umgab.
Vom Internat aus war dieser Weg außerhalb der Stadtmauer in wenigen Gehminuten erreichbar, und viele Bewohner Elburgs kamen hierher, um zu flanieren und durchzuatmen, was auf den kleinen, dicht befahrenen Gassen innerhalb der Stadt kaum möglich war. Im Sommer trafen sich Familien hier zum Picknick, und Kinder spielten auf den Rasenflächen. Junge Galane ruderten ihre Auserwählten in kleinen Booten über das Wasser, und manchmal zogen sich die frisch Verliebten in aller Heimlichkeit in
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