Im Land der Orangenbluten
den Schatten der großen Bäume zurück. Den jungen Mädchen aus dem Internat waren derartige Beobachtungen immer eine beliebte Zerstreuung. Aber jetzt im Winter und bei frostigem Wetter fanden sich nur wenige Menschen ein.
Julie seufzte. »Ich weiß nicht, warum mein Onkel unbedingt möchte, dass ich wieder zu ihm komme.« Es war ihr in der Tat ein Rätsel, warum ihr Onkel jedes Jahr aufs Neue darauf bestand, dass sie den Jahreswechsel in seinem Haus verbrachte. Julie kam weder mit ihm noch mit seiner Frau oder seinen Töchtern gut aus. »Vielleicht plagt ihn ja sein schlechtes Gewissen, weil er mich hierhin abgeschoben hat«, grollte sie.
Sofia legte einen Arm um ihre Freundin. Sie selbst hatte sich sehr auf die Ferien mit Julie gefreut und konnte deren Enttäuschung gut nachempfinden. »Ach, Juliette ... ich glaube, sie meinen es nur gut.« Sie spürte selbst, wie leer ihre Worte klangen. Als sie den alten Wehrturm erreichten, dessen Grundmauern ihnen als Aussichtspunkt dienten, setzten sie sich auf eine Bank. Einige Enten versuchten, über das dünne Eis ans Wasser zu gelangen, und zwei große Schwäne saßen ruhend unter den tief hängenden, vom Frost weißgepuderten Ästen einer Weide am Ufer.
»Es sind doch nur drei Wochen«, setzte Sofia erneut an.
»Es sind seit acht Jahren immer nur drei Wochen, aber die reichen mir wirklich«, widersprach Julie heftig. Dann kam ihr eine Idee: »Vielleicht ... wenn ich krank wäre, könnte ich doch zumindest hierbleiben?«
»Meine Güte, Juliette, du bist jetzt achtzehn Jahre alt, stell dich doch nicht an wie ein Kleinkind! Zum Jahreswechsel gibt dein Onkel doch immer eine große Gesellschaft, hm? Da hast du wenigstens ein bisschen was, worauf du dich freuen kannst. Schöne Kleider, Tanz, Musik, interessante Leute ... und zu Ostern kommst du ja wieder mit zu uns.« Sofia ließ sich ihre eigene Traurigkeit über die geplatzten Pläne nicht anmerken. Für Julie war es schwer genug.
Julie grollte immer noch, aber Sofia hatte recht, die alljährliche Feier im Hause des Onkels war bisher immer ein kleiner Höhepunkt gewesen und entschädigte zumindest ein wenig für die restliche Zeit. Nicht zuletzt, weil der Rest der Familie Tage vorher und hinterher von Julie abgelenkt war. Nicht dass sie sich sonst sonderlich um sie gekümmert hätten, aber das lästige, unehrliche Gerede über das »arme Kind« verstummte dann zumindest zeitweise. Da aus der Familie des Onkels niemand außer ihrem Cousin Wim so recht Zugang zu Julie fand oder sich gar darum bemühte, beschränkte man sich darauf, Julie immer und immer wieder zu bedauern, weil sie ihre Eltern und ihr Heim verloren hatte und überhaupt ... Dieses geheuchelte Mitleid spendete ihr keinen Trost – kaum war sie wieder im Internat, vergaß diese Familie sie erneut für ein Jahr.
»Amsterdam ist doch eine wundervolle Stadt! Dort gibt es tolle Einkaufsstraßen, und du wirst wieder viele neue Leute kennenlernen. Das ist doch aufregend!« Sofia machte einen erneuten Ansatz, die Freundin aufzumuntern, aber allmählich gingen ihr die Argumente aus. Julie machte indes immer noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. »Und dein Cousin ist doch auch noch da ... dieser Wim.«
Ja, Wim. Ein kleiner Lichtblick, das musste Julie sich eingestehen. Ihr Cousin Wim, Wilhelms Sohn, war der Einzige aus dieser Familie, den sie mochte. Als Julie damals, nach über einem Jahr im Internat, das erste Mal nach Amsterdam gerufen worden war, war er noch ein kleiner, ziemlich frecher Bengel gewesen, aber jetzt war er zu einem jungen Mann gereift. Als Kind hatte sie sich gesträubt, sich dem zwei Jahre jüngeren Wim anzuschließen, auch wenn sie dankbar beobachtet hatte, dass der Junge seinen großen Schwestern und seiner Mutter offensichtlich ebenso wenig abgewinnen konnte wie sie selbst. Mit ihm hatte sie sich eigentlich immer gut verstanden, außerdem brachte er etwas Abwechslung in den ansonsten langweiligen Alltag im Hause ihres Onkels.
Unwillkürlich musste sie lächeln. Im Geiste sah sie jetzt seinen blonden Schopf und seine verschmitzten Augen vor sich, als er ihr damals, sie mochte zwölf Jahre alt gewesen sein, vorgeschlagen hatte, ein Stück vom frisch gebackenen Kuchen aus der Küche zu stibitzen. Julie hatte sich geziert, sie wollte nicht unangenehm auffallen im Haus ihres Onkels und schon gar nicht durch einen Diebstahl. Dann war sie der süßen Verlockung und Wims Drängen aber doch erlegen – es war ein prickelndes, aufregendes
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