Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Eins
Der Laden des weit geöffneten Fensters knallte mit solcher Wucht gegen die Hausmauer, dass es wie ein Pistolenschuss klang, und Montalbano, der just in diesem Augenblick träumte, er sei in eine Schießerei verwickelt, fuhr aus dem Schlaf hoch, verschwitzt und durchgefroren zugleich. Fluchend stand er auf und schloss das Fenster. Der eisige Nordwind blies so stark, dass er nicht wie sonst die morgendlichen Farben auffrischte; er trug sie mit sich fort, verwischte sie dabei und ließ nur den Entwurf von einem Fresko zurück oder vielmehr blasse Spuren wie bei einem Aquarell, das ein Dilettant beim Sonntagsausflug gemalt hat. Offensichtlich hatte der Sommer, der schon seit ein paar Tagen mit dem Tode kämpfte, in der Nacht beschlossen, sich endgültig geschlagen zu geben und der folgenden Jahreszeit Platz zu machen, die eigentlich der Herbst hätte sein müssen. Eigentlich, denn in Wirklichkeit war dieser Herbst, wie er sich ankündigte, schon Winter, und zwar tiefer Winter.
Montalbano kroch wieder ins Bett und trauerte den verschwundenen Übergangszeiten nach. Wo waren sie geblieben? Auch sie waren vom immer schnelleren Rhythmus des menschlichen Daseins überrollt worden und hatten sich angepasst: Sie hatten begriffen, dass sie eine Pause bedeuteten, und waren verschwunden, denn heutzutage darf es keine Pausen geben in diesem immer wahnsinnigeren Rennen, das von endlosen Aktivitäten bestimmt ist: auf die Welt kommen, essen, lernen, vögeln, produzieren, zappen, kaufen, verkaufen, kacken und sterben. Dieses ewige Tun, und dann ist doch alles in einer Nanosekunde, im Nu vorbei. Hatte es nicht eine Zeit gegeben, in der man sich auch mit etwas anderem beschäftigte? Mit Denken, Nachdenken, Zuhören und - warum nicht - Faulenzen, Dösen, Sich-Ablenken? Fast mit Tränen in den Augen erinnerte sich Montalbano an die Kleidung in der Übergangszeit und an den Staubmantel seines Vaters. Und dabei fiel ihm ein, dass er für die Fahrt ins Büro Winterklamotten anziehen musste. Er gab sich einen Ruck, stand auf und öffnete die Tür des Schranks, in dem die warmen Sachen hingen. Der Gestank von mindestens einem Zentner Mottenkugeln überfiel ihn ohne Vorwarnung. Zuerst blieb ihm die Luft weg, dann tränten seine Augen, und schließlich musste er niesen. Er nieste zwölfmal hintereinander, Rotz lief ihm aus der Nase, sein Kopf war betäubt, und der Brustkorb tat immer mehr weh. Er hatte vergessen, dass seine Haushälterin Adelina einen Privatkrieg gegen die Motten führte, in dem sie sämtliche Register zog und immer eine erbarmungslose Niederlage erlitt. Der Commissario verzichtete lieber. Er schloss den Schrank wieder und nahm einen dicken Pullover aus der Kommode. Auch hier hatte Adelina Giftgase eingesetzt, aber diesmal war Montalbano darauf gefasst und wappnete sich mit Luftanhalten. Er ging auf die Veranda und legte den Pullover auf den Tisch, damit sich der Gestank an der frischen Luft etwas verflüchtigen konnte. Nachdem er sich gewaschen, rasiert und angekleidet hatte, wollte Montalbano den Pullover von der Veranda holen, um ihn anzuziehen, aber er war nicht mehr da. Ausgerechnet der nagelneue Pullover, den Livia ihm aus London mitgebracht hatte! Wie sollte er ihr jetzt nur erklären, dass irgendein Scheißtyp, der vorbeigekommen war, der Versuchung nicht hatte widerstehen können und einfach hingelangt hatte? Er stellte sich wortwörtlich vor, wie das Gespräch zwischen ihm und seiner Freundin ablaufen würde. »Na klar! Das war ja vorauszusehen!«
»Wie meinst du das?«
»Weil ich ihn dir geschenkt habe!«
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Viel! Die Sachen, die ich dir schenke, sind dir völlig egal! Zum Beispiel das Hemd, das ich dir aus…«
»Das habe ich noch.«
»Kein Wunder, du hast es ja auch nie angezogen! Und dann: Der berühmte Commissario Montalbano lässt sich von einem kleinen Dieb beklauen! Schämen solltest du dich!« In diesem Augenblick sah er den Pullover. Vom Nordwind fortgerissen, wirbelte er über den Sand, er wirbelte weiter und weiter und kam immer näher an die Stelle heran, wo der Sand bei jeder größeren Welle überflutet wird. Montalbano sprang über das Geländer und rannte los, sodass ihm der Sand in Socken und Schuhe drang; er kam gerade noch rechtzeitig, packte den Pullover und entriss ihn einer wütenden Welle, die es anscheinend auf dieses Kleidungsstück besonders abgesehen hatte. Halb blind vom Sand, den ihm der Wind in die Augen blies,
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