Im Land der weissen Rose
Soweit ich verstanden habe, hat einer seiner
Krieger die Beherrschung verloren. Er sah die Würde seines
Häuptlings bedroht und hat Paul erstochen – von hinten!
Tonga muss sich in Grund und Boden schämen. Dabei gehörte
der Mörder nicht mal zu Tongas Stamm. Tonga hat also keine
Gewalt über ihn. Deshalb wurde er auch nicht bestraft. Tonga hat
ihn nur zu seinen Leuten zurückgeschickt. Wenn du willst, kannst
du die Sache amtlich untersuchen lassen. Tonga und wohl auch Marama
waren Zeugen und würden vor Gericht nicht lügen.«
James füllte Tee und viel Zucker in eine Tasse und versuchte,
sie Gwyneira in die Hand zu geben.
Gwyneira schüttelte den Kopf. »Was sollte das ändern?«,
fragte sie leise. »Der Krieger sah seine Ehre bedroht, Paul sah
seine Frau bedroht, Howard fühlte sich beleidigt... Gerald hat
ein Mädchen geheiratet, das er nicht liebte ... Eins führt
zum anderen, und es hört niemals auf. Ich bin das alles so leid,
James.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Und ich
hätte Paul so gern noch gesagt, dass ich ihn liebe.«
James zog sie an sich. »Er hätte gewusst, dass du
lügst«, sagte er leise. »Du kannst es nicht ändern,
Gwyn.«
Sie nickte. »Ich werde damit leben müssen, und ich
werde mich jeden Tag dafür hassen. Es istseltsam mit der Liebe.
Ich konnte nichts für Paul empfinden, aber Marama hat ihn
geliebt... so selbstverständlich, wie sie atmete, und ohne
Vorbehalte, egal was Paul getan hat. Sie war seine Frau, sagst du? Wo
ist sie? Hat Tonga ihr etwas angetan?«
»Ich nehme an, dass sie offiziell Pauls Frau war. Tonga und
Paul haben sich jedenfalls um sie geprügelt. Paul war es also
ernst. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht. Ich kenne die
Trauerzeremonien der Maoris nicht. Wahrscheinlich hat sie Paul
begraben und sich zurückgezogen. Wir werden Tonga fragen müssen
oder Kiri.«
Gwyneira straffte sich. Ihre Hände zitterten immer noch, aber
sie schaffte es jetzt, die Finger an der Teetasse zu wärmen und
die Tasse auch zum Mund zu führen. »Wir müssen es
herausfinden. Es darf nicht sein, dass dem Mädchen auch noch
etwas passiert. Ich muss sowieso ins Dorf, so bald wie möglich,
ich will es hinter mich bringen.Aber heute nicht mehr. Nicht in
dieser Nacht. Diese Nacht brauche ich für mich. Ich will allein
sein, James... ich muss nachdenken. Morgen, wenn die Sonne hoch
steht, werde ich mit Tonga reden. Ich werde um Kiward Station
kämpfen,James! Tonga wird es nicht bekommen!«
James nahm Gwyneira in die Arme und trug sie behutsam in ihr
Schlafzimmer. »Was immer du willst, Gwyn. Nur allein lassen
werde ich dich nicht. Ich werde da sein, auch in dieser Nacht. Du
kannst weinen oder von Paul erzählen ... es muss doch auch gute
Erinnerungen geben. Manchmal musst du auch stolz auf ihn gewesen
sein! Erzähl mir von ihm und Marama. Oder lass mich dich einfach
in den Armen halten. Du musst nicht reden, wenn du nicht willst. Aber
du bist nicht allein.«
Gwyneira trug ein schwarzes Kleid, als sie Tonga am Seeufer traf,
zwischen Kiward Station und dem Dorf der Maoris. Verhandlungen führte
man nicht in geschlossenen Räumen, Götter, Geister und
Ahnen sollten Zeugen sein. Hinter Gwyneira standen James, Andy,
Poker, Kiri und Moana. Hinter Tonga ungefähr zwanzig grimmig
blickende Krieger.
Nachdemein paar förmliche Begrüßungen ausgetauscht
waren, sprach der Häuptling Gwyn noch einmal sein Bedauern über
den Tod ihres Sohnes aus – in gemessenen Worten und perfektem
Englisch. Gwyneira erkannte Helens Schule. Tonga war eine seltsame
Mischung zwischen Wildem und Gentleman.
»Der Gouverneur hat entschieden«, sagte Gwyneira dann
mit fester Stimme, »dass der Verkauf des Landes, das man heute
Kiward Station nennt, nicht in jeder Hinsicht den Richtlinien des
Vertrages von Waitangi entsprach ...«
Tonga lachte spöttisch. »Nicht in jeder Hinsicht? Der
Verkauf war rechtswidrig!«
Gwyneira schüttelte den Kopf. »Nein,das war er nicht.
Er erfolgte vor dem Vertragsabschluss, der den Maoris einen
Mindestpreis für ihr Land zusicherte. Gegen einen Vertrag, der
noch nicht bestand – und den die Kai Tahu obendrein nie
unterschrieben haben –, konnte man nicht verstoßen.
Dennoch hat der Gouverneur befunden, dass Gerald Warden euch beim
Kauf übervorteilt hat.« Sie atmete tief durch. »Und
nach gründlicher
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