Im Land Der Weissen Wolke
während dieser schwierigen Transaktion die faustdicke Lüge auftischte, Gwyneira hätte die Teekuchen selbst gebacken.
Nach dem Tee griff man zum Stickrahmen, wobei Lady Silkham Gwyneira sicherheitshalber ihren eigenen zusteckte, auf dem das Petit-Point-Kunstwerk fast vollendet war, und unterhielt sich dabei über das letzte Buch von Mr. Bulwer-Lytton. Für Gwyneira war diese Lektüre eher ein Schlafmittel; sie hatte es noch nie geschafft, auch nur einen dieser Schinken zu Ende zu lesen. Immerhin kannte sie ein paar Wörter wie »erbaulich« und »erhabene Ausdruckskraft«, die man in diesem Zusammenhang immer wieder anbringen konnte. Außerdem sprachen die Damen natürlich über Gwyneiras Schwestern und ihre wundervollen Ehemänner, wobei sie angelegentlich die Hoffnung äußerten, dass bald auch Gwyneira mit einer ähnlich guten Partie gesegnet würde. Gwyneira selbst wusste nicht, ob sie sich das wünschte. Sie fand ihre Schwäger langweilig, und Dianas Gatte war fast alt genug, um ihr Vater zu sein. Man munkelte, dass die Ehe vielleicht deshalb noch nicht mit Kindern gesegnet war, wobei Gwyneira die Zusammenhänge hier nicht ganz klar waren. Allerdings musterte man ja auch ältere Zuchtschafe aus ... Sie kicherte, als sie Dianas gestrengen Gatten Jeffrey mit dem Widder Cesar verglich, den ihr Vater gerade widerwillig aus der Zucht genommen hatte.
Und dann Larissas Ehemann Julius! Der stammte zwar aus einer der besten Adelsfamilien, war aber schrecklich farblos und blutleer. Gwyneira erinnerte sich, dass ihr Vater nach dem ersten Kennenlernen verstohlen etwas von »Inzucht« gemurmelt hatte. Immerhin hatten Julius und Larissa bereits einen Sohn – der aber auch schon wie ein Gespenst aussah. Nein, das alles waren nicht die Männer, von denen Gwyneira träumte. Ob das Angebot in Übersee wohl besser war? Dieser Gerald Warden machte einen ganz lebhaften Eindruck, obwohl er natürlich zu alt für sie war. Aber er kannte sich immerhin mit Pferden aus, und er hatte ihr nicht das Angebot gemacht, ihr in den Sattel zu helfen. Ritten Frauen in Neuseeland vielleicht ungestraft im Herrensitz? Gwyneira ertappte sich manchmal beim Träumen über den Romanheftchen der Dienstboten. Wie es wohl sein mochte, mit einem der schneidigen amerikanischen Cowboys um die Wette zur reiten? Ihm herzklopfend bei einem Pistolenduell zuzusehen? Und die Pionierfrauen dort im Westen griffen auch durchaus selbst mal zur Waffe! Gwyneira hätte ein von Indianern umzingeltes Fort jederzeit Dianas Rosengarten vorgezogen.
Jetzt zwängte sie sich aber erst mal in ein Korsett, das sie noch enger einschnürte als das alte Ding, das sie beim Reiten trug. Sie hasste diese Quälerei, aber wenn sie in den Spiegel sah, gefiel ihr die extrem schlanke Taille. Keine ihrer Schwestern war so zierlich. Und das himmelblaue Seidenkleid stand ihr auch ganz hervorragend. Es ließ ihre Augen noch mehr strahlen und betonte das leuchtende Rot ihres Haars. Wie schade, dass sie es aufstecken musste. Und wie mühsam für die Zofe, die schon mit Kämmen und Haarspangen bereitstand! Gwyneiras Haar war von Natur aus lockig; wenn Feuchtigkeit in der Luft lag, wie fast immer in Wales, kräuselte es sich besonders und war schwer zu zähmen. Gwyneira musste oft stundenlang still sitzen, bis die Zofe es vollständig gebändigt hatte. Und dabei fiel ihr Stillsitzen schwerer als alles andere.
Seufzend ließ Gwyneira sich auf dem Frisierstuhl nieder und machte sich auf eine langweilige halbe Stunde gefasst. Doch dann fiel ihr Blick auf das unscheinbare Heftchen, das neben den Frisierutensilien auf dem Tisch lag. In den Händen der Rothaut lautete der reißerische Titel.
»Ich hab mir gedacht, Mylady wünscht ein wenig Kurzweil«, bemerkte die junge Zofe und lächelte Gwyneira im Spiegel an. »Aber es ist sehr gruselig! Sophie und ich konnten die ganze Nacht nicht schlafen, nachdem wir es einander vorgelesen hatten!«
Gwyneira hatte schon nach dem Heftchen gegriffen. Sie gruselte sich nicht so schnell.
Gerald Warden langweilte sich derweil im Salon. Die Herren nahmen einen Drink vor dem Essen. Eben hatte Lord Silkham ihm seinen Schwiegersohn Jeffrey Riddleworth vorgestellt. Lord Riddleworth, erklärte er Warden, habe in der Indischen Kronkolonie gedient und sei erst vor zwei Jahren hochdekoriert nach England heimgekehrt. Diana Silkham war seine zweite Frau, die erste war in Indien verstorben. Warden wagte nicht zu fragen, woran, aber mit ziemlicher Sicherheit war die Dame
Weitere Kostenlose Bücher