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Im Land des Falkengottes. Tutanchamun

Im Land des Falkengottes. Tutanchamun

Titel: Im Land des Falkengottes. Tutanchamun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schramek
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offenbaren musste und er darauf hoffen durfte, dass sein Herz ihn vor Osiris und den Mächten der Unterwelt nicht belastete. Aber strebt unser ganzes Wesen nicht danach, dass unsere Seele gerichtet und hoffentlich für würdig befunden wird, in ewiger Seligkeit fortleben zu dürfen? Brauchen wir nicht die Hoffnung auf Erlösung, um überhaupt in Frieden sterben zu können?
    Echnaton hatte uns gelehrt, dass die Seelen der Menschen, ohne von jenseitigen Mächten gerichtet zu werden, bei Nacht in den Gräbern ruhten, so, wie wir Menschen selbst in unseren Häusern liegen und ruhen, solange es Nacht ist. Bei Tag aber würden sie unter uns weilen und durch die Gnade Echnatons an allem teilhaben, was wir Lebenden unternahmen. Sahen die Gräber von Achet-Aton in ihrem Inneren nicht aus wie kleine Paläste? Nicht grobe Pfeiler trugen die niederen Decken, sondern schlanke Säulen, wie wir sie in unseren Häusern errichteten. Nicht Gebete und Sprüche aus dem Amduat, dem Buch über das, was in der Unterwelt ist, zierten ihre Wände, sondern Bilder aus unserem täglichen Leben, Bilder über frohe und traurige Augenblicke. Der Sonnengesang Echnatons war in seiner ganzen Länge an die Wand meines Grabes geschrieben, damit sich meine Seele immer wieder an die Worte Pharaos erinnern konnte.
    Diesen Gedanken hing ich nach, während der Erste Sehende des Aton ein ums andere Mal betend und Weihrauch schwenkend das tiefrote Meer der Mohnblüten mit Echnaton in seiner Mitte umrundete. Ein unauffälliges Kopfnicken gab mir zu verstehen, dass er seine Gebete beendet hatte. Zahllose Tempeldienerinnen, dem Kindesalter kaum entwachsen, eilten durch die Seitentüren in den Saal und nahmen die Mohnblumen auf, die so geschickt in Körben gesteckt hatten, dass die Behältnissefür den Betrachter bislang unsichtbar geblieben waren. Zwölf Offiziere der Leibgarde traten hinzu, stellten sich neben die Bahre, sechs an jede Seite, und warteten, bis auch alle anderen bereit waren, den kurzen Weg bis zum großen Palasthof anzutreten. Die Vorlesepriester des Gempa-Aton bildeten die Spitze des kleinen Trauerzuges. Hinter ihnen schritt Merire mit vier Oberpriestern, gefolgt von den Tempeldienerinnen mit all den Mohnblumen, die eben noch Echnaton umgeben hatten. Ihnen schlossen sich die Offiziere an, die unseren toten Herrscher trugen, gefolgt von der königlichen Familie und den Großen der Beiden Länder.
    Der unsichtbare Chor stimmte wieder eine jener traurigen Weisen an, deren unheimlicher, unwirklicher Klang die Gedanken der Trauernden ruhen ließen, als stammten diese Töne nicht aus dieser, sondern aus einer jenseitigen, uns fremden, aber doch irgendwie vertrauten Welt. Die mächtigen Tore zum Audienzhof öffneten sich behäbig in würdevoller Langsamkeit. Die Sonnenscheibe stand nicht mehr weit über dem westlichen Horizont, und so schritten wir mit Echnaton in unserer Mitte über einem Teppich von Mohnblüten dem rot glühenden Aton entgegen. Es war ein unvergessliches Bild, wie die feurige Glut der Gottheit durch die Weihrauchnebel hindurch die gesamte Öffnung des Tores ausfüllte, und ich ertrug diesen Anblick nur, weil die im Gehen langsam schwankenden Körper, die ich vor mir nur als schwarze Schatten wahrnehmen konnte, mir immer wieder für kurze Augenblicke Schatten spendeten. Nur Echnaton zwischen ihnen glitt Aton ruhig und gleichmäßig entgegen.
    Als die Bahre mit dem Toten das Freie erreichte, sank vor ihr eine ungeheuer große Menschenmenge schweigend zu Boden, und stimmte von den Mauern des Hofes ein noch gewaltigerer Chor in den Trauergesang ein.
    Die Soldaten stellten die Bahre auf dem obersten Treppenabsatz ab, und während nur Tutanchaton und ich an ihrem Kopfende zurückblieben, gingen Teje und die Töchter Pharaos anderen Fußende. Alle anderen stiegen die Stufen ganz hinab bis in den Hof.
     
    «Ich muss dich jetzt für kurze Zeit allein lassen», sagte ich zu Tutanchaton, denn auch mir stand es nicht zu, neben dem künftigen Herrscher der Beiden Länder von Echnaton Abschied zu nehmen. Ich stieg die wenigen Stufen hinab und trat zwischen Meritaton und Anchesen-paaton. Wieder sah ich das versteinerte Gesicht meiner Schwester, dieses alte und verhärmte Gesicht, das von allem Leid der Welt gezeichnet war. Doch trotz allen Mitgefühls ertrug ich ihren Anblick in diesem Moment nicht, wollte ich ihn nicht ertragen, und sah nach Westen, wo Aton sich anschickte, für diesen Tag von seiner Schöpfung Abschied zu nehmen. Dann sah ich

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