Im Land des Falkengottes. Tutanchamun
einmal nur wie der Gute Gott von dem Platz aus, der nur ihm und seiner Großen königlichen Gemahlin gebührte, in das Antlitz des einzigen Gottes zu blicken. Jetzt waren es allein Nofretete und Meritaton, die hinaufstiegen, während alle anderen unten zurückblieben und die Soldaten den goldenen Sarg Echnatons zu Füßen des Podiums und zwischen dampfenden Weihrauchpfannen abstellten.
Semenchkare Djoserchepru-Re und ihre älteste Tochter hatten sich auf ihren Thronen niedergelassen und erwarteten das Erscheinen des Aton. «Mit dem wohltätigen Ka des Re, mit den heiligen Gestalten des Re» bedeutete ihr Name. Doch es sollte Tutanchaton dort oben sitzen, welchen Thronnamen er auch immer jetzt führen würde!
Allmählich wich die Finsternis der Nacht dem heraufziehenden Morgen, doch es dauerte länger als an anderen Tagen, denn über dem östlichen Gebirge lag ein schmales, lang gezogenes Wolkenband. Dies war kein gutes Zeichen, bedeutete es doch, dass die ersten Strahlen, die Aton aussandte, wenn er sich über das Gebirge erhob, nicht sogleich auf Nofretete und ihre Tochter treffen würden. Während die Farbe des Wolkenbandes noch von einem dunklen Graublau in ein kräftiges Rot wechselte, sah ich, wie ein großer Vogel auf uns zuflog. Er kam von jenseits des Gebirges, genau aus der halbrunden Senke, welche den Berg aussehen ließ wie unser Schriftzeichen für das Wort «Horizont».
Mit ruhigem, majestätischem Flügelschlag flog er geradewegs auf den Tempel zu, und jetzt erkannte ich, dass es ein Reiher war. Die Blicke aller waren mittlerweile auf ihn gerichtet, als er sich mit einem letzten, seinen Flug beendenden Flügelschlag auf der östlichen Mauer des Gempa-Aton niederließ. Ich erkannte den gewundenen Hals, den schlanken Schnabel und vor allem die beiden langen, dünnen Federn, die von seinem Kopf nach hinten herabfielen. Zwei-, dreimal breitete er seine Flügel aus und legte dabei seinen Kopf auf den schlangenförmig gewundenen Hals.
Endlich hob sich die Wolkendecke über dem Horizont und gab den Strahlen Atons den Weg frei. Erst hielt ich es für einen Zufall, dass der Reiher genau in der Achse zwischen Aton und dem Sarg Pharaos stand. Doch kaum dass er von den ersten Strahlen hell erleuchtet wurde, stieß er einen entsetzlichen, krächzenden Schrei aus, ging etwas in die Knie, um sich gleich umso heftiger abzustoßen, und kehrte mit mächtigen Flügelschlägen nach Osten und dorthin zurück, von wo er gekommen war. Es war kein gewöhnlicher Reiher, dessen war ich mir sicher. Es war der Benu, der große Sonnenvogel, der in alten Zeiten vor allem in On Verehrung gefunden hatte. Deswegen galt dort der Benu seit alters her als die Seele des Re. Andernorts, etwa in Hu, wurde er als die Seele des Osiris verehrt. Meine Schwester wusste das gewiss auch.
«Er nimmt ihn mit zu seinem Vater», hörte ich Teje neben mir ehrfürchtig flüstern.
«Ja», antwortete ich ihr, «Echnaton kehrt in der Seele des Benu zu Aton zurück.»
Nur wenige von uns lebten schon lange genug, um die Geheimnisse des alten Glaubens und dessen Mythen noch zu kennen. Meine Tochter musste um die Bedeutung des Benu gewusst haben, denn in unserer Kindheit hatten wir gewiss darüber gesprochen. Doch sie saß still und regungslos auf ihrem Thron und genoss die wärmenden Strahlen Atons und den traurigenGesang, als hätte sie das heilige Tier gar nicht wahrgenommen. Noch während der Gesang anhielt, sprach Merire, der Erste Sehende des Aton, mit ausgebreiteten Armen und den Blick nach Osten gerichtet, den Sonnengesang Echnatons. Er sprach ihn langsam und deutlich, doch jeder von uns sprach den heiligen Gesang unseres toten Herrschers mit, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Den Schluss sprach Merire mit weit ausgebreiteten Armen, als würde die angerufene Gottheit die flehenden Worte des Priesters so nicht überhören können:
«Die Welt entsteht auf Deinen Wink,
wie Du sie geschaffen hast.
Gehst Du auf, so leben sie alle,
gehst Du unter, so sterben sie.
Du bist die Lebenszeit selbst, man lebt durch Dich.
Die Augen ruhen auf Deiner Schönheit,
bis Du untergehst,
alle Arbeit wird niedergelegt,
wenn Du untergehst im Westen.
Der aufgehende Aton lässt alles wachsen für den König, und Eile ist in jedem Fuß.
Seit Du die Welt geschaffen hast, erhebst Du sie
Für Deinen Sohn, der aus Deinem Leib hervorgegangen ist, den König von Ober- und Unterägypten,
den Herrn der Beiden Länder Nefer-chepru-Re Waen-Re, Sohn des Re, der von
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