Im Land des Regengottes
»Und in den deutschen Schutzgebieten werden Ingenieure gebraucht. Wenn du mit deinem Studium fertig bist, kommst du nach Afrika. Wir heiraten und bauen uns ein Haus und gründen eine Familie. Wir werden es gut dort haben, viel besser als hier in der Kohlstraße.«
Ich erwartete, dass er sofort wieder über die handtellergroßen Spinnen und die heidnischen Hottentotten 4 herziehen würde, aber er zuckte nur mit den Schultern.
»Das ist doch ausgemachter Blödsinn«, murmelte er dann, aber er klang dabei weniger verächtlich als vorher.
3
Zwei Tage bevor das Jahrhundert zu Ende ging, brachte Jupp die Antwort aus Afrika.
Diesmal ließ ich mich nicht abwimmeln, sondern blieb so lange neben meiner Mutter stehen, bis sie das Kuvert aufgerissen hatte. Als sie den Briefbogen auffaltete, fielen zwei Karten heraus und flatterten zu Boden. Ich hob sie auf. Es waren zwei Schiffspassagen für die Gertrud Woermann von Hamburg nach Swakopmund, Deutsch-Südwestafrika.
»Für den 25. Januar«, sagte ich.
Meine Mutter ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Heute war der 29. Dezember. Bis zu unserer Abreise war es weniger als ein Monat.
»Was schreibt er denn? Lies doch vor«, drängte ich sie. Wie wild mein Herz hämmerte! Lauter, viel lauter als der Schiffsmotor, den ich in Kürze hören würde.
»In der Erwartung, dass Sie bis zum Ende des nächsten Monats genügend Zeit haben werden, Ihre Angelegenheiten zu ordnen, habe ich mir erlaubt, Ihre Schiffspassagen zu buchen. Ich erwarte Sie und Ihre Tochter Henrietta am 18. Februar 1900 am Hafen in Swakopmund in der Pension Zum Kaiser Wilhelm. Möge Gott der allmächtige Herr Sie auf Ihrer Reise begleiten. Bedenken Sie auch in der Bedrängnis immer dieses: Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. (Psalm 119, 105)«
Einen Moment lang schwiegen wir betreten. Der Brief klang nun wirklich gar nicht wie das sehnsüchtige Schreiben eines Bräutigams an seine Verlobte. Aber der Missionar war auch kein vor Liebe brennender Jüngling und meine Mutter kein naives Mädchen. Die beiden hatten sich noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie mussten sich erst kennenlernen, um miteinander vertraut zu werden.
Meine Mutter fasste sich als Erste wieder. »Nun, in diesem Falle haben wir ja noch eine ganze Menge Arbeit vor uns. Du wirst in den letzten Wochen nicht mehr auf den Kratzkopp gehen. Ich brauche dich nun wirklich hier. Ich kann den Leuten ihre Sachen ja nicht ungeflickt wieder zurückgeben.«
Als ob das noch irgendeine Bedeutung hätte.
Nach dem Altjahresgottesdienst traten wir aus der Kohlstraßenkapelle in die kalte Nacht hinaus. Am Himmel suchte ein bleicher Vollmond fröstelnd Schutz hinter dünnen Wolkenfetzen, um ihn herum zitterten die Sterne. Ein paar Buben ließen Knallerbsen los und lachten laut, als die alte Lena zuerst aufkreischte und dann loszeterte.
Es war unser letzter Jahreswechsel in Deutschland. Für meine Mutter war es der letzte Jahreswechsel in ihrem Leben, aber das wussten wir damals natürlich noch nicht. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute nach oben in den schwarzen Himmel und versuchte, mir vorzustellen, dass wir in wenigen Wochen in Afrika wären. Dort stünde der Sternenhimmel auf dem Kopf. Und alles andere vermutlich auch.
»Wenn ihr dort ankommt, ist der Sommer gerade vorbei«, hatte mir Bertram erzählt. Er wusste so viel mehr über Afrika als ich. Er hatte mir erklärt, dass sich die Neger in viele unterschiedliche Stämme aufgliederten. Keiner der Stämme sei sesshaft, einige seien Viehzüchter, die anderen Viehdiebe. »Es herrscht ein ständiger Kleinkrieg«, sagte Bertram. »Sie kämpfen gegeneinander und oft auch gegen die neuen weißen Herren im Land.«
»Woher weißt du das alles?«, hatte ich gefragt.
»Aus Büchern«, gab er zurück.
Im Gegensatz zu mir hatte er sich offensichtlich nicht an die Liebesromane aus der Leihbibliothek gehalten. Und während ich nichts als Flausen im Kopf hatte, hatte er sich ein breites Wissen angelesen. Nun schämte ich mich für die Wahl meiner Lektüre, aber jetzt war es zu spät. In Afrika kam man bestimmt viel schwerer an gute Bücher als in Elberfeld.
Ich blickte mich verstohlen nach ihm um. Aber Bertram war nicht hier, auch vorhin in der Kapelle hatte ich ihn nicht gesehen. Vielleicht waren die Strates in die Friedhofskirche auf der Hochstraße gegangen. Da drüben stand jedoch meine Freundin Trude, sie lehnte sich auf den Arm ihres Verlobten. Als sie meinen Blick
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