Im Land des Regengottes
man nur auf eine so hirnrissige Idee kommen!
Unsere Kabine sah aus wie ein Schlachtfeld, als wir vom Gepäckraum wieder zurückkamen. Wäschestücke, Kleider, unsere Toilettenartikel, die Bibel meiner Mutter und das Bild meines Vaters, alles lag wild durcheinander auf der unteren Pritsche, dem kleinen Tisch, dem Fußboden.
Seufzend machte sich meine Mutter daran, Ordnung zu schaffen. Sie erwartete natürlich, dass ich ihr dabei half. Aber während sie sich bückte, drehte ich mich wortlos um und hastete über die schmale Holzstiege aufs Zwischendeck.
Der Regen war stärker geworden. Die Menschenmenge am Kai war hinter einem Wall aus Regenschirmen verborgen. Auch an Deck hatten die meisten Passagiere Schirme aufgespannt. Aber mein Schirm lag im Koffer im Gepäckraum, zusammen mit der Pfanne und den Stores.
Die Tropfen prasselten auf meinen Hut, meine Schultern, meinen Rock. Egal. Ich würde nicht wieder nach unten gehen. Ich starrte zum Land hinüber und drehte dabei gedankenverloren an Bertrams Verlobungsring an meinem Finger. Meiner Mutter hatte ich erzählt, dass ich den Ring von Trude bekommen hätte.
»Sie werden ja ganz nass«, sagte hinter mir eine helle Frauenstimme.
Gut beobachtet. Ich tat dennoch so, als hätte ich nichts gehört.
»Wenn Sie möchten, können Sie sich bei mir unterstellen.« Jetzt trat die Frau neben mich.
Sie war noch sehr jung, eher ein Mädchen, fünfzehn oder sechzehn wie ich. Sie trug einen dunklen Hut, dessen Krempe trotz ihres Schirms völlig durchnässt war. Ein paar dunkelrote Haarsträhnen klebten an ihren feuchten Wangen.
»Ihr Schirm scheint aber wenig zu nützen«, bemerkte ich. »Sie sind ja selbst vollkommen nass.«
Sie lachte. »Meine Mutter hat mir den Schirm eben erst gebracht. Sie will, dass ich sofort herunterkomme, um mich abzutrocknen, aber ich bin lieber hier oben. Kommen Sie.« Sie hielt den Schirm ein bisschen höher. Ich trat neben sie.
»Mir gefällt’s hier oben auch besser.« Ich zögerte einen Moment lang. »Sie reisen ebenfalls mit Ihrer Mutter?«
»Mit meinen Eltern und vier Brüdern.« Sie verzog das Gesicht. »Und Sie?«
»Nur mit meiner Mutter.« Am liebsten hätte ich ebenfalls das Gesicht verzogen, aber ich hielt mich gerade noch zurück.
»Ich heiße Eva Cordes«, stellte sich das Mädchen vor. Sie wechselte den Schirm von der Rechten in die Linke und reichte mir ihre Hand. »Wollen wir vielleicht Du zueinander sagen?«
»Warum nicht.« Obwohl mich meine Mutter immer davor warnte, allzu schnelle Duzfreundschaften zu schließen. Oder gerade deshalb. »Ich heiße …« Jette, wollte ich gerade sagen, aber dann überlegte ich es mir anders. Nein, den Namen Jette würde ich ein für alle Mal in Deutschland zurücklassen. Ab sofort war ich Henrietta. »Henrietta Hauck.«
»Wir sind aus Göttingen und fahren zum Kap«, sagte Eva. »Und ihr?«
»Swakopmund. In Südwest«, erklärte ich.
»Ach, dann erreicht ihr euer Ziel ja vor uns!«
»Was macht ihr denn im Kapland?«
»Mein Vater ist Pfarrer. Er wird dort eine Missionsstation leiten. Wupperthal heißt der Ort.«
»Wupperthal, sagst du? Wie lustig. Meine Mutter und ich sind aus dem echten Wuppertal, aus Elberfeld. Also fährst du gewissermaßen dorthin, wo wir herkommen.«
Eva lachte.
»Und stell dir vor, wir sind ebenfalls unterwegs zu einer Missionsstation«, fuhr ich fort. »Bethanien im Großen Namaland. Meine Mutter wird dort einen Missionar heiraten.«
»Wie aufregend! Dann teilen wir also in Kürze das gleiche Schicksal. Nur dass du dich nicht mit vier kleinen Brüdern herumärgern musst. Oder hat dein zukünftiger Stiefvater Kinder?«
»Nicht dass ich wüsste.« Das hätte er uns ja wohl vorher mitgeteilt. Obwohl man sich natürlich nicht sicher sein konnte.
»Sei bloß froh.«
»Hm.« Im Gegensatz zu Eva gefiel mir die Vorstellung ausnehmend gut, dass Freudenreich Söhne oder Töchter haben könnte. Ich hatte mir immer Geschwister gewünscht. Aber meine Mutter war damals bei meiner Geburt fast gestorben, danach hatte ihr der Arzt verboten, weitere Kinder zu bekommen. Wenn Freudenreich nun eine Tochter in meinem Alter hätte … oder auch einen Sohn … Selbst gegen jüngere Stiefbrüder hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Ach Unsinn, dachte ich dann, das hätte er meiner Mutter bestimmt nicht verschwiegen.
»Ich werde übrigens gar nicht lange auf der Missionsstation leben. Meine Eltern wollen mich nach Stellenbosch aufs Rheinische Mädchenpensionat schicken,
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