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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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damit ich dort eine Ausbildung zur Lehrerin mache. Ich werde also nur in den Ferien nach Wupperthal kommen.«
    Eine Ausbildung zur Lehrerin im Mädchenpensionat in Stellenbosch. Das klang ja ganz wunderbar. Eva war wirklich zu beneiden.
    Ich dachte gerade darüber nach, ob ich ihr davon erzählen sollte, dass auch ich davon träumte, Lehrerin zu werden, als das hohe Signalhorn der Gertrud Woermann ein lautes Tuten ausstieß.
    »Es geht los.« Eva reckte den Hals. Das Fallreep war bereits eingezogen worden. Gerade wurden die Leinen gelöst. Die Regenschirme an Land begannen, auf und ab zu schwappen wie Wellen bei heftigem Seegang. Die Leute winkten und warfen Kusshändchen. Vom Schiff aus winkte man zurück. Einige Passagiere jubelten, andere weinten. Ich tauchte unter dem Schirm weg ins Freie und rannte zur Reling, weil ich unbedingt sehen wolle, wie der Anker gelichtet wurde. Der Regen prasselte auf meinen Hut und drang in Sekunden durch meinen Mantel. Was für ein Wetter! Als ob der Himmel unsere Abfahrt beweinte. Oder uns den Abschied von Deutschland leichter machen wollte.
    »Wo willst du denn hin?« Eva war mir gefolgt und hielt jetzt den Schirm wieder über mich, als wäre sie für mich verantwortlich.
    »Wo ist der Anker? Ich will sehen, wie sie ihn hochziehen!«
    »Auf der anderen Seite. Hinten am Schiff.«
    Ich blickte mich um. Trotz des Regens war das Oberdeck inzwischen brechend voll, jeder der Passagiere wollte noch einen letzten Blick auf den heimatlichen Hafen werfen, bevor die Reise ins Ungewisse begann. Bis ich mich durch die Menschenmasse zum Heck durchgekämpft hätte, wären wir wahrscheinlich längst auf hoher See.
    »Sieh doch nur. Die Schlepper!« Eva stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite.
    Vier kleine Schiffe hatten unseren großen Dampfer ins Schlepptau genommen und zogen ihn zum Meer. Über uns kreischte eine Möwe mit schräg gelegtem Kopf, als sähe sie so etwas zum ersten Mal. Die Menschen am Kai entfernten sich immer weiter von uns.
    »Da hinten stehen meine Eltern!« Eva hatte ihren Blick bereits vom Ufer abgewandt. »Komm, du musst sie kennenlernen.«
    Bevor ich widersprechen konnte, zog sie mich am Ärmel hinter sich her. Während wir uns zwischen den Passagieren hindurchschlängelten, hielt ich Ausschau nach meiner Mutter. Ob sie immer noch unten in der Kabine die Kleider sortierte oder ebenfalls nach oben gekommen war? Vielleicht suchte sie mich ja auch. Falls sie hier oben war, war es jedenfalls nicht nett von mir, sie allein stehen zu lassen.
    »Vater. Mutter. Darf ich euch meine neue Freundin Henrietta Hauck vorstellen? Wir haben uns soeben hier an Bord kennengelernt.«
    Eva schob mich vor sich her auf ein großes, schlankes Paar zu. Ihr Vater, der Pastor, trug eine goldene Nickelbrille und einen Backenbart wie alle Pastoren, die ich kannte. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen hatte er seinen Bart jedoch ordentlich gestutzt. Frau Cordes hatte ebenfalls eine Brille auf ihrer sommersprossigen Nase. Ihr Haar war rotblond und glatt wie das ihrer Tochter. Ich gab beiden die Hand und knickste, was die vier halbwüchsigen Jungen, die um das Ehepaar herum standen, zum Kichern brachte.
    »Sehr angenehm«, sagte Pastor Cordes und warf seinen Söhnen einen strafenden Blick zu, worauf sie verstummten. Zwei von ihnen waren rothaarig wie Eva und ihre Mutter. Die anderen beiden waren dunkel wie ihr Vater und ähnelten sich enorm. Zwillinge. »Sind Sie auch unterwegs ins Kapland, Fräulein Hauck?«
    »Nach Swakopmund. Und bitte, nennen Sie mich Henrietta.«
    Wir plauderten ein bisschen über unsere unterschiedlichen Reiseziele und die Missionsstation Bethanien, die Cordes dem Namen nach kannte.
    »Waren Sie denn schon einmal in Afrika?«, fragte seine Frau.
    Ich schüttelte den Kopf. Im selben Moment sah ich meine Mutter. Sie stand nur wenige Schritte von uns entfernt in der lärmenden Masse der Passagiere. Auch sie war völlig durchnässt, aber sie schien das Wasser gar nicht zu bemerken, das über ihren Hut auf ihr Gesicht lief. Sie stand sehr aufrecht da und blickte so angestrengt zurück zum Kai, als suchte sie in der Menge ein bestimmtes Gesicht. Ihre Hände hatte sie vor ihrem Leib gefaltet. Sie sah aus, als ob sie sich an sich selbst festhielt.
     
    Warum bin ich damals nicht zu ihr gegangen? Warum habe ich meine Mutter nicht einfach an der Hand genommen und zu den Cordes geführt? Darf ich vorstellen, das ist meine Mutter. Stattdessen ließ ich sie allein im Regen

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